Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
sagt Earl. »Das war der Fünf-Minuten-Pfiff. Wir müssen
los.«
Ich gehe mit ihm zum Waggon, in dem das Chapiteau transportiert
wird. Die Packpferde stehen schon auf ihrem Platz, und überall klappen die
Männer von der Fliegenden Vorhut Rampen hoch, steigen ein und schließen die
Schiebetüren.
»He, Camel«, ruft Earl durch die offene Tür. »Ich hab den Doc
mitgebracht.«
»Jacob?«, krächzt drinnen jemand.
Ich klettere hinein. Nachdem ich mich an die Dunkelheit gewöhnt
habe, sehe ich Camel, der in der Ecke auf einem Stapel Futtersäcke kauert. Ich
gehe hinüber und knie vor ihm nieder. »Was ist los, Camel?«
»Ich weiß nicht recht, Jacob. Bin vor ein paar Tagen aufgewacht, da
waren meine Füße ganz schlaff. Ich kann sie nicht richtig spüren.«
»Kannst du laufen?«
»Ein bisschen. Aber ich muss die Knie richtig hochziehen, weil meine
Füße so schlapp sind.« Er senkt die Stimme zu einem Flüstern. »Aber das ist
nicht alles«, sagt er. »Da ist noch was anderes.«
»Was denn?«
Ängstlich weiten sich seine Augen. »Männerkram. Ich fühle nichts …
da unten.«
Der Zug zuckelt langsam los, jede Kupplung, die sich spannt, ergibt
einen Ruck.
Earl tippt mir auf die Schulter. »Wir fahren los. Du musst jetzt
raus.« Er stellt sich neben die offene Tür und winkt mich zu sich.
»Ich fahre diese Etappe bei euch mit«, sage ich.
»Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil irgendwer mitkriegt, dass du dich bei den Racklos rumtreibst,
und dich – oder wohl eher die Jungs hier – aus dem Zug schmeißt«, sagt er.
»Verdammt, Earl, sorgst du nicht für die Sicherheit? Sag ihnen, sie
sollen sich verziehen.«
»Ich gehöre zum Hauptabschnitt. Das hier ist Blackies Revier«, sagt
er und winkt immer hektischer. »Mach schon!«
Ich sehe in Camels flehende, angsterfüllte Augen. »Ich muss gehen«,
sage ich. »In Dubuque komme ich zurück. Du wirst schon wieder. Wir bringen dich
zu einem Arzt.«
»Ich hab kein Geld.«
»Schon in Ordnung. Wir finden eine Lösung.«
»Komm schon!«, brüllt Earl.
Ich lege dem alten Mann eine Hand auf die Schulter. »Wir lassen uns
etwas einfallen. Okay?«
Camels Blick flackert, er hat Tränen in den Augen.
»Okay?«
Er nickt. Einmal nur.
Ich stehe auf und gehe zur Tür. »Verdammt«, sage ich, als ich die
rasch vorbeiziehende Landschaft sehe. »Wir sind schon schneller, als ich
dachte.«
»Und langsamer werden wir sicher nicht mehr«, sagt Earl, legt mir
eine Hand mitten auf den Rücken und stößt mich zur Tür hinaus.
»Du spinnst wohl!«, rufe ich. Ich rudere mit den Armen wie eine
Windmühle, pralle auf dem Schotterbett auf und rolle mich auf die Seite. Dumpf
prallt hinter mir ein weiterer Körper auf.
»Und?«, sagt Earl, steht auf und klopft sich den Hosenboden ab. »Ich
hab doch gesagt, es geht ihm schlecht.«
Verwundert sehe ich ihn an.
»Was ist?«, fragt er verwirrt.
»Ach, nichts.« Ich stehe ebenfalls auf und klopfe Staub und Schotter
von meiner Kleidung.
»Dann mal los. Geh lieber zurück, bevor dich jemand hier vorne
sieht.«
»Sag doch einfach, ich hätte nach den Arbeitspferden gesehen.«
»Oh. Gute Idee. Ja. Schätze, deshalb bist du von uns beiden der Doc,
was?«
Ich fahre herum, aber seine Miene ist vollkommen arglos. Ich gebe es
auf und gehe zurück zum Hauptabschnitt.
»Was ist los?«, ruft Earl mir nach. »Warum schüttelst du den Kopf,
Doc?«
»Worum ging’s denn?«, fragt Walter, als ich hereinkomme.
»Um nichts.«
»Ja klar. Das meiste habe ich mitbekommen. Spuck’s aus, ›Doc‹.«
Ich zögere. »Es geht um einen von der Fliegenden Vorhut. Er ist
ziemlich übel dran.«
»So viel war klar. Wie hat er auf dich gewirkt?«
»Verängstigt. Und ehrlich gesagt kann ich das verstehen. Ich möchte
ihn zu einem Arzt bringen, aber ich bin völlig pleite, und er auch.«
»Nicht mehr lange, morgen ist Zahltag. Was für Symptome hat er
denn?«
»Kein Gefühl in Armen und Beinen und … na ja, woanders auch nicht.«
»Wie, woanders?«
Ich blicke an mir hinunter. »Du weißt schon …«
»Scheiße«, sagt Walter. Er setzt sich auf. »Das dachte ich mir. Ihr
braucht keinen Arzt. Er hat Ingwerlähmung.«
»Was hat er?«
»Ingwerlähmung. Er hat den Jake. Den Wackelfuß. Wie man’s auch
nennt, es ist immer dasselbe gemeint.«
»Nie davon gehört.«
»Jemand hat eine ordentliche Ladung von schlechtem Jake angesetzt,
mit Weichmacher oder so was. Hat das Zeug übers ganze Land verteilt. Eine
schlechte Flasche, und man ist
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