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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gruen
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Allerwertesten bis zur Rollstuhlkante und greife
nach der Gehhilfe.
    Eins, zwei, drei …
    Ihr blasses Gesicht schiebt sich plötzlich vor meines. »Kann ich
Ihnen helfen, Mr. Jankowski?«
    Ha. Das war beinahe zu einfach.
    »Ach, ich wollte nur ein bisschen aus dem Fenster sehen«, sage ich
mit gespielter Überraschung.
    »Warum bleiben Sie nicht sitzen, und ich fahre Sie hin?«, fragt sie,
dabei stützt sie sich energisch mit beiden Händen auf die Armlehnen.
    »Oh, na dann. Ja, das wäre sehr freundlich«, antworte ich. Ich lehne
mich zurück, stelle die Füße auf die Fußrasten und falte die Hände auf dem
Schoß.
    Die Schwester wirkt verblüfft. Gütiger Himmel, dieser Überbiss ist
beeindruckend. Sie richtet sich auf und wartet, wahrscheinlich will sie sehen,
ob ich versuche abzuhauen. Ich lächle freundlich und richte den Blick auf das
Fenster am Ende des Flurs. Schließlich stellt sie sich hinter mich und packt
die Griffe des Rollstuhls.
    »Nun, Mr. Jankowski, ich muss sagen, ich bin ein wenig überrascht.
Normalerweise sind Sie … ähm … recht entschlossen ,
was das Gehen betrifft.«
    »Ach, ich hätte das schon geschafft. Ich lasse mich nur von Ihnen
fahren, weil am Fenster keine Stühle stehen. Warum eigentlich nicht?«
    »Weil es da nichts zu sehen gibt, Mr. Jankowski.«
    »Es gibt einen Zirkus zu sehen.«
    »Ja, an diesem Wochenende. Sonst ist da nur der Parkplatz.«
    »Und wenn ich mir einen Parkplatz ansehen will?«
    »Dann sollen Sie das tun, Mr. Jankowski«, sagt sie und schiebt mich
zum Fenster.
    Ich runzle die Stirn. Sie hätte sich mit mir streiten sollen. Warum
hat sie sich nicht mit mir gestritten? Ich weiß ja, warum. Sie hält mich für
einen verwirrten alten Mann. Die Bewohner darf man nicht aufregen, oh, nein,
vor allem nicht den alten Mr. Jankowski. Der bewirft einen mit pockigem
Wackelpudding und sagt dann, es wäre ein Unfall gewesen.
    Sie wendet sich zum Gehen.
    »He!«, rufe ich ihr nach. »Ich brauche noch meine Gehhilfe.«
    »Rufen Sie mich einfach, wenn Sie so weit sind«, sagt sie. »Ich hole
Sie dann ab.«
    »Nein, ich will meine Gehhilfe! Die habe ich immer bei mir. Holen
Sie mir meine Gehhilfe.«
    »Mr. Jankowski …«, sagt das Mädchen. Mit einem tiefen Seufzer
verschränkt sie die Arme.
    Aus einem Seitengang erscheint Rosemary wie ein himmlischer Engel.
    »Gibt es ein Problem?«, fragt sie und sieht zwischen mir und dem
pferdegesichtigen Mädchen hin und her.
    »Ich will meine Gehhilfe, und sie holt sie mir nicht«, sage ich.
    »Das habe ich nicht gesagt. Ich meinte nur …«
    Rosemary hebt eine Hand. »Mr. Jankowski hat gerne seine Gehhilfe bei
sich. Immer. Wenn er es möchte, holen Sie sie ihm bitte.«
    »Aber …«
    »Nichts aber. Holen Sie ihm seine Gehhilfe.«
    Binnen Sekunden wechselt der Ausdruck von Empörung auf dem
Pferdegesicht des Mädchens zu feindseliger Resignation. Sie wirft mir einen
mordlustigen Blick zu und holt mir die Gehhilfe. Sie trägt sie theatralisch vor
sich her, während sie den Gang entlangstürmt. Vor mir knallt sie das Gerät auf
den Boden. Das wäre sicher eindrucksvoller, wenn es dabei nicht wegen der
Gummikappen an den Beinen quietschen, sondern krachen würde.
    Ich grinse. Ich kann nicht anders.
    Sie bleibt stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, und sieht mich
an. Sicher wartet sie auf ein Dankeschön. Hoch erhobenen Hauptes wie ein
ägyptischer Pharao wende ich langsam den Kopf und blicke auf das rot-weiß
gestreifte Chapiteau.
    Ich finde die Streifen irritierend – zu meiner Zeit waren nur die
Verkaufsstände gestreift. Das Chapiteau war einfach weiß, zumindest am Anfang.
Gegen Saisonende war es vielleicht dreck- und grasverschmiert, aber es war nie
gestreift. Und das ist nicht der einzige Unterschied zwischen dieser Show und
denen aus meiner Vergangenheit – hier gibt es nicht einmal eine Budengasse, nur
das Chapiteau mit einem Kartenschalter neben dem Eingang und einem Süßigkeiten-
und Andenkenstand daneben. Wie es aussieht, verkaufen sie noch die gleichen
Sachen – Popcorn, Süßigkeiten und Luftballons –, aber die Kinder tragen auch
leuchtende Schwerter und Spielsachen, die blinken und sich bewegen, die ich aus
dieser Entfernung aber nicht genau erkennen kann. Ich wette, ihre Eltern haben
dafür tief in die Tasche greifen müssen. Manche Dinge ändern sich nie. Gadjos
sind immer noch Gadjos, und man kann immer noch die Artisten von den Arbeitern
unterscheiden.
    »Mr. Jankowski?«
    Rosemary beugt sich über mich und

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