Wasser
Kanälen.
Die Windmühlen, noch immer das beliebteste Postkartenmotiv aus den Niederlanden, hatten in erster Linie die Aufgabe, das Wasseraus der Erde herauszupumpen – und nicht, wie in vielen anderen Ländern, Korn zu mahlen. Die großen Segel der Mühlen, die sich auf den weiten Ebenen an der Nordsee deutlich von Himmel und Wolken abheben, sind Sinnbilder für die Geschichte der Niederlande. Das Geräusch der flatternden Segel und des fließenden Wassers, das von den Mühlrädern emporgehoben und in Kanäle befördert wird, um dann in Richtung Meer abtransportiert zu werden, ist seit Jahrhunderten die akustische Kulisse, die Leben und Arbeit der Menschen in den niederländischen Poldern begleitet.
Was für mich jedoch die Situation der Niederlande und deren Besonderheit am sinnfälligsten widerspiegelt, ist nicht Kinderdijk mit seinen Windmühlen, sondern Alkmaar, eine Stadt, die nordwestlich von Amsterdam liegt. Sie ähnelt anderen Orten in den Niederlanden, doch ihre spannende Geschichte weist zugleich überdeutlich in die Zukunft. Unweit von hier wurde im Jahr 1533 der erste Polder dem Wasser abgerungen. Und im Jahr 1573, zu Beginn des Achtzigjährigen Krieges gegen Spanien, spielte Wasser eine entscheidende Rolle bei der Durchbrechung der Belagerung von Leiden. Niederländische Freiheitskämpfer zerstörten einige Deiche an der Maasmündung, wodurch das Polderland geflutet wurde und die spanischen Truppen die Belagerung der Stadt aufgeben mussten. Das besonders Interessante daran ist, dass die Niederländer hier zum ersten Mal eben jenes Land opferten, das sie kurz zuvor unter großen Mühen dem Griff des Wassers entzogen und trockengepumpt hatten. Sie mussten also einen Teil des erkämpften Landes aufgeben, um den Fortbestand der Nation zu sichern. Heute stehen die Niederländer vor einer vergleichbaren Situation, wobei allerdings nicht Spanien, sondern das Wasser selbst der Feind ist.
Die Niederlande haben ein außergewöhnliches, strukturelles Problem, weil das Gleichgewicht, das zwischen Land und Wasser geschaffen wurde, inzwischen massiv bedroht ist. Daher wurden neue Maßnahmen zur Kontrolle der Flüsse eingeleitet. Wieder einmal muss hart erkämpftes Land aufgegeben werden, und das sogar in weit größerem Umfang als 1573 in Alkmaar. Es wurden Hochwasserüberflutungsflächengebraucht, weshalb man sich für die Renaturierung vieler Polder entschieden hat.
»Die Niederländer begreifen nicht mehr, dass sie vollständig abhängen von der Kontrolle über das Wasser. Die Poldermentalität und der Geist der Zusammenarbeit, die das Land geschaffen haben, existieren nicht mehr. Wir haben das Gefühl, mit Leuten zu reden, die vergessen haben, wo sie eigentlich leben.« Der Wasserbauingenieur, der mich zu einer der Pumpstationen außerhalb von Delft mitgenommen hat, breitet die Arme aus und zeigt auf die Kanäle, an denen wir entlang fahren. 12 »Sie begreifen nicht, dass wir es sind, die permanent kontrollieren, wie viel Wasser Tag und Nacht durch die Kanäle fließt, und die im Prinzip darüber bestimmen, ob sie ihren Wagen in die Garage fahren oder trockenen Fußes mit ihrer Freundin am Abend irgendein Restaurant aufsuchen können.«
Mit meinem niederländischen Ingenieurfreund, der auch Historiker ist, befinde ich mich auf Pumpentour. Es verschafft mir das besondere Vergnügen, in den avantgardistischen Niederlanden herumzufahren und dabei etwas so Traditionelles und Unspektakuläres wie Wasserpumpen und Pumpstationen zu besichtigen. Die Wasserexperten, denen wir begegnen, bringen genau dieselbe Verärgerung wie mein Freund zum Ausdruck, wenn sie erzählen, dass die heutigen Niederländer die Wassersicherheit für garantiert hielten – als wäre diese von der Natur erschaffen worden oder als hätte man die Natur überwunden. Doch tatsächlich werden die Niederlande von eben jenen Wasserbauingenieuren behütet, welche tausende von Pumpen beaufsichtigen, die tagtäglich, Jahr für Jahr ihre Arbeit verrichten – und das in großen Teilen des Landes. Diese Pumpen sind das Nervenzentrum des Landes, denn sie entscheiden, wo die Menschen leben, wo sie entlangfahren und was sie tun können. Die am tiefsten liegenden Polder befinden sich sieben Meter unter dem Meeresspiegel. Springfluten können das Meerwasser bis zu fünf Meter über den normalen Wasserstand hinaus anheben und alle gefährden. Das Regenwasser muss zudem permanent abgepumpt werden. Nachdem ich eine Pumpstation nachder anderen besucht und noch
Weitere Kostenlose Bücher