Wasser
Eisdämme bildeten. Zwischen den Jahren 600 und 900 durchbrach das Wasser diese Eiswände, was zu einer der größten Flutkatastrophen nach der letzten Eiszeit führte – in Indien. Vorhersagen über die Zukunft werden in immer größerem Maße in den Interpretationen der Vorgeschichte verankert sein.
Am späten Abend kommen wir in Lhasa an. Nach einem kurzen Ausflug in die Altstadt – ein Muss für alle Lhasa-Touristen – sitze ich an einer Straßenecke und beobachte die gläubigen Buddhisten beim Drehen ihrer Gebetsmühlen, während sie ihre traditionellen Runden durch die Stadt absolvieren, die sich im Laufe eines Jahrzehnts in ein verkehrsreiches, lärmendes Chaos verwandelt hat. Am nächsten Morgen folge ich dem Brahmaputra mit dem Wagen flussaufwärts bis zum Gebirgspass Kamba La, fast 5000 Meter über dem Meer. Einer der größten Gletscher in diesem Teil Tibets erstreckt sich hier, überzogen von Schmutz, bis fast zur Straße herunter. Dort, wo er endet, sind ein paar verblasste Gebetsfahnenaufgestellt. Ich klettere auf den Gletscher, um das Eis anzufassen, denn sollten die Voraussagen über die Zukunft dieses und anderer Gletscher im Himalaja und in Tibet zutreffen, dann berühre ich hier eine Art Versicherungspolice für eine Zivilisation, die schon bald Geschichte sein wird.
Was dieser Reise durch die tibetische Landschaft allerdings die größte Bedeutung verleiht und alle anderen Eindrücke überragt, ist der Augenblick, in dem ich hier ganz allein herumlaufe, umgeben von sechstausend Meter hohen Bergen in einer brennend heißen Hochgebirgswüste an den Ufern des Brahmaputra, der Lebensader Asiens. Wie viele andere bin ich fasziniert von den religiösen und philosophischen Traditionen Tibets, habe im »Tibetischen Totenbuch« aus dem 8. Jahrhundert gelesen, das wörtlich übersetzt »Emanzipation durch das Wissen vom Leben nach dem Tod« heißt und habe mich mit der Symbolik der Tsa-Tsa-Statuen beschäftigt, die aus heiligem Lehm geformt sind und in den Straßen Lhasas mitunter noch angeboten werden. Wie jedem Historiker, der sich mit der Region beschäftigt, ist mir klar, dass die Tibeter bereits um das Jahr 600 ein phonetisches Alphabet entwickelt und im 10. Jahrhundert einen feudalistisch-theokratischen Staat aufgebaut hatten, mit Priestern – oder Lamas – als Herrschern über ein Heer von Sklaven, die für sie das Land kultivierten. Die verfallenen buddhistischen Klöster, die sich an Tibets Berge klammern, die zitternden Mönche mit ihren dünnen, typisch dunkelroten Roben, die sie eng um den Körper schlingen, der nach innen gewandte Blick der Gläubigen, die sich inmitten des Verkehrs und der chinesischen Touristen unzählige Male in den Staub werfen, wieder aufstehen und erneut zu Boden fallen, um sich auf dem Bauch kriechend und mit nach unten gewandtem Gesicht weiterzubewegen, die Himmelbegräbnisse, bei denen die Toten, deren Seele den Körper bereits verlassen hat, in Stücke gehackt auf die Felsspitzen gelegt werden, damit die Geier das Fleisch von den Knochen nagen können – all das interessiert mich momentan nur am Rande. Denn ich bin etwas viel Wichtigerem auf der Spur.
Meine »tibetische Reise« wird genau hier, an der Grenze zwischen Asiens lebensspendenden Quellen und der Hochgebirgswüste, zu einem konkreten Erlebnis. Jede bedeutsame Reise in unserer Zeit – 750 Jahre nach Marco Polo und 50 Jahre nach »Das dritte Auge« (ein Buch, das offiziell von Tuesday Lobsang Rampa verfasst war, als authentische Erzählung über den tibetischen Mystizismus vermarktet und millionenfach verkauft wurde, bevor man herausfand, dass es von Cyril Henry Hoskin, einem Klempnersohn aus Devon, geschrieben worden war, der Tibet niemals betreten hatte) – muss mit dem Versuch verbunden sein, sich von dem mit exotischer Mystik behafteten Blick der traditionellen Reiseliteratur zu befreien. Bevor ich also nach Tibet fuhr, las ich keinen einzigen Reisebericht. Einzige Ausnahme waren Sven Hedins Bücher über seine drei Reisen nach Tibet und Zentralasien zwischen 1893 und 1909, auf denen er mehrere hunderttausend Quadratmeter Land vermaß, indem er die Schritte des Kamels zählte, auf dem er ritt. 8 Ich konzentrierte mich vielmehr auf Bücher und Berichte über Hydrologie, Topografie und Glaziologie.
Während ich auf den schönen, an die Sahara erinnernden Sanddünen umherwandere, den wegen der dünnen Luft ganz nahe wirkenden Brahmaputra entdecke – oder Yarlung Tsangpo, wie er auf Chinesisch
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