Wasser
heißt – und dunkelblaue, mit Eis überzogene Felswände erblicke, komme ich der Wahrheit über das Schicksal Tibets so nahe wie nur eben möglich. Die Region verfügt über tausende Quadratkilometer Sandwüste sowie riesige Gebiete, die von Versteppung bedroht sind, und ist doch zugleich der Wasserturm für die Hälfte der Menschheit auf diesem Planeten. 9 Der Himalaja und die Gebirge, die Sir Edmund Hillary und andere im 20. Jahrhundert unter Lebensgefahr bestiegen haben, fungieren heute als Barriere gegen den hiesigen Niederschlag: Sie beschützen Tibet vor dem Monsun, verwandeln aber gleichzeitig große Teile der Region in eine Wüste. In Zentraltibet regnet es nur 25 bis 50 Millimeter pro Jahr (die globale Definition des Wüstenklimas liegt bei Werten unter 200 Millimetern pro Jahr).
Der Manasarovar-See, der mit fast 4600 Metern über dem Meer am höchsten gelegene See der Welt, den man von Lhasa aus nach ein paar Tagesreisen mit dem Auto über das Hochgebirgsplateau erreicht, ist im klassischen Buddhismus die Mutter aller Flüsse und sowohl für Buddhisten als auch für Hindus heilig. Im mythologischen Universum der Pilger kann er von den Sünden befreien und Glück verheißen, wenn man ihn umrundet und an vier heiligen Plätzen in ihm badet. Ganz in der Nähe liegt das Kailash-Gebirge, das die Tibeter als Gang Rinpoche kennen und das für die Hindus den Ort repräsentiert, an dem der Gott Shiva wohnt. Während das Gebirge im Hinduismus und im klassischen tibetischen Buddhismus einen wesentlichen mythologischen Ort darstellt, ist es im Zusammenhang mit Wasserpolitik eines der wichtigsten geopolitischen Zentren der Zukunft. In dieser Region entspringen vier Flüsse und fließen auf die trockenen Ebenen zu, in denen eine Milliarde Menschen leben: der Karnali in Richtung Süden auf den Ganges zu, der Indus nach Norden, der Satluj, der in westliche Richtung fließt und in den Indus mündet sowie der Brahmaputra gen Osten. Der Manasarovar-See und das Kailash-Gebirge, in der Reiseliteratur häufig von Mystizismus gefärbt, symbolisieren für mich Tibets immer wichtiger werdende Rolle als regionaler Wasserturm und globales Klimathermometer. Ein ganzer Kontinent wird ängstliche Blicke auf dieses Gebirge werfen, dem die Tibeter vor Hunderten von Jahren den Namen »das kostbare Juwel im Schnee« gaben.
Zurück in Lhasa, sitze ich im Park gleich unterhalb des Potala-Palastes, der von König Songtsen Gampo im 7. Jahrhundert angelegt, durch Krieg und Blitzschlag zerstört und dann vom fünften Dalai Lama im Jahre 1645 wieder aufgebaut wurde und seitdem das politische Zentrum Tibets ist. Ich bin umgeben von einer Atmosphäre aus Religiosität und Frommheit, die von den Tibetern durch tiefe, konzentrierte Gebete vor dem Palast hervorgerufen wird, und hänge dem deplatzierten ketzerischen Gedanken nach, dass die Zukunft dieser Region von so etwas Prosaischem wie der Entwicklung des Eises auf dem Dach der Welt bestimmt werden wird.
Auf Pumpentour in den Niederlanden
Jedes Mal, wenn ich über die Niederlande fliege, beuge ich mich zum Fenster und versuche eines jener Gebilde zu entdecken, die dieses Land so einzigartig machen: den 63 Kilometer langen Entwässerungskanal, der vor über einhundert Jahren von Hand gegraben wurde und heute den Flughafen einkreist. Um das Jahr 1850 ließen sich die Niederländer die zu jener Zeit weltgrößte Dampfmaschine aus England kommen, um viele hundert Millionen Kubikmeter Wasser aus dem sogenannten Haarlemermeer abzupumpen. Dort entstand dann jenes Land, auf dem sich heute der Flughafen befindet. Die Kanäle wurden nicht etwa gegraben, um – wie an vielen anderen Orten der Welt – trockene Landstriche mit Wasser zu versorgen, sondern um Wasser loszuwerden und es ins offene Meer abzuleiten. Die Pumpen und Entwässerungskanäle waren die Grundvoraussetzung für Schiphol, und wenn ich auf dem verkehrsreichen Flughafen an den Hugo-Boss- und Jack&Jones-Geschäften vorbeihaste, denke ich immer daran, dass ich mich auf mühsam gewonnenem Land bewege – sechs Meter unter dem Meeresspiegel.
Ich reise in die Niederlande, um zu erfahren, was das Land und seine politische Führung zu tun gedenkt, falls die Gletscher in den Alpen abschmelzen. Der Kampf gegen das Meer ist altbekannt, doch was wird in Europas Flussdeltas geschehen, wenn der Wasserstand der Flüsse durch das Schmelzwasser steigt? Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sich die Eisfläche, die in der Schweiz von den dort
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