Wasser

wolkenlosen Himmel, die Luft ist klar und rein, und die Farbe des Fjords verleiht der Bezeichnung »dunkelblau« eine völlig neue Bedeutung. Mit jedem zurückgelegten Kilometer verstärkt sich der Eindruck, der Zivilisation zu entfliehen und in eine Eiswüste vorzudringen. Der angesichts dieses schönen Frühlingstages gut gelaunte Pilot steuert den Helikopter entgegen den Vorschriften in geringer Höhe und streift dabei fast die riesigen Eisberge, die wie gigantische Flöße über den Fjord verstreut liegen. Als wir landen, erkenne ich Häuser, die sich mit ihren meterhohen Grundmauern am Land festklammern, um so den starken Sturmböen widerstehen zu können, die hier manchmal blasen. Alle Häuser sind in stark leuchtenden Grundfarben angestrichen: dunkelrot, gelb, blau und hellrot. Ich melde mich im Hotel Red House an, das von einem Deutschen betrieben wird und eine fantastische Aussicht auf den König-Oscar-Fjord, das Eis, die Berge und die Gletscher bietet. Schnell wird mir klar, dass es auf Grönland nicht wenige Menschen gibt, die sich auf den Tag freuen, an dem das Eis etwas geschmolzen sein wird.
    Ich setze mich auf die dem Fjord zugewandte Veranda und atme tief ein, um in der herben Schönheit meiner Umgebung die reine, klare Luft in vollen Zügen zu genießen. Aus der Bibliothek des Hauses habe ich mir einige klassische Grönlandbücher mitgebracht. Danach ließen sich vor 2000 Jahren die ersten Inuit an der Ostküste nieder, nachdem sie offenbar in Lederbooten am Ufer entlanggerudert waren – mehrere tausend Jahre, nachdem die erstenMenschen von Nordamerika an die grönländische Westküste gelangt waren. In Perioden mit kälterem Klima als heute starben ganze Gemeinschaften aus, und Siedlungen wurden aufgegeben, bevor schließlich wärmeres Wetter und leichter zu durchquerendes Eis zur Gründung neuer Siedlungen führten. In jüngeren Büchern wird inzwischen die Frage aufgeworfen, ob Klimaveränderungen eine entscheidende Ursache dafür waren, dass die von Erik dem Roten gegründeten Wikingerkolonien aufgegeben werden mussten. Sie entstanden im Jahr 984 und existierten 450 Jahre lang. Doch dann verschwanden sie urplötzlich und hinterließen nicht viel mehr als ein paar Knochenreste, die später von Archäologen gefunden wurden. 14 Analysen dieser Fragmente deuten darauf hin, dass die Wikinger an konstantem, durch Klimaveränderungen verursachtem Hunger litten. Im Mittelalter war der größte Teil Ostgrönlands vermutlich unbewohnt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden an der gesamten Ostküste Siedlungen, von denen die meisten allerdings im Laufe des 19. Jahrhunderts wieder verschwanden, nachdem die Bevölkerungszahl dramatisch gesunken war. Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass auch in einem lang andauernden Zeitraum von relativer klimatischer Stabilität kleine Veränderungen des Wassers große historische Bedeutung für das Schicksal der dortigen Gesellschaft hatten und dass einige Teile dieser Gesellschaft nicht in der Lage waren, sich diesen Wandlungen anzupassen. In den Geschichtsbüchern der Zukunft wird Erik der Rote daher nicht nur als Entdecker Grönlands gelten, sondern auch als derjenige, der eine Kolonie gründete, die sich Klimaschwankungen nicht anzupassen vermochte.
    Ich bin nach Grönland gekommen, weil die neue Unsicherheit über die Zukunft des Klimas beziehungsweise die neue Wasserunsicherheit im Laufe weniger Jahre dazu geführt hat, dass diese Eiswüste ins Zentrum globaler Aufmerksamkeit gerückt ist. Erst als Wissenschaftler Eiskerne aus dem Grönlandeis holten, erfuhr die Öffentlichkeit, dass sich das Klima im Laufe der letzten Millionen Jahre geändert hatte – manchmal sogar radikal und in relativkurzer Zeit. Paradoxerweise bilden eben diese neuen historischen Entdeckungen die grundlegende Ursache für die Unsicherheit über die Zukunft. Das älteste Eis in der untersten Schicht ist fast zwei Millionen Jahre alt und stellt somit Quellenmaterial zu einer Vergangenheit dar, die wir zuvor nicht rekonstruieren oder verstehen konnten. Nicht zuletzt hat dieses neue Wissen die Annahmen über den hydrologischen Kreislauf der Zukunft und somit die gesellschaftliche Entwicklung ein für alle Mal verändert. Aufgrund der Erkenntnisse, die aus den Untersuchungen des grönländischen Eises gewonnen wurden, können wir heute mit Sicherheit davon ausgehen, dass das Klima zu allen Zeiten Schwankungen unterworfen war und weiterhin sein wird und dass die menschliche Aktivität auf