Wasserwelten
die ihm den Ruf eingetragen hat, ein Traditionalist zu sein, ein altmodischer Erzähler fast im Sinn des neunzehnten Jahrhunderts. Tatsächlich begegnet in seiner besten Prosa der sensitive Reichtum der russischen Novellisten dem Lakonismus der Angelsachsen.
Das ist nicht als Einwand zu verstehen. Und ist auchvon den Millionen Lesern, die Siegfried Lenz gefunden hat, nicht als Einwand verstanden worden. Obwohl dieser Autor die Welt keineswegs vernunftgemäß eingerichtet findet, will er doch bessern und erleuchten, will aufklären . Beides wird ihm zuweilen angekreidet, wie auch die Haltung des Epikers, die Welt und die Menschen lieber zu verstehen als zu verurteilen. Vor vierzig Jahren hat er, der von literarischen Theorien wenig hält, sein episches Programm formuliert: den Wunsch, wie er damals sagte, einen »wirkungsvollen Pakt mit dem Leser« zu schließen. Da Lenz nie dazu neigte, den Mund voll zu nehmen, brauchte er später wenig zurückzunehmen. Das hat ihn auch davor bewahrt, die politischen Möglichkeiten des Schriftstellers zu überschätzen.
Von der Literatur hat er gesagt, sie sei eine »Wieder- Erfindung der Welt«. Die Formel verblüfft durch ihre Einfachheit, was ihre Gültigkeit nicht einschränkt. Bei dem Versuch, die Welt durch Geschichten zu verstehen, mag die Erfahrung des Scheiterns am Ende stehen, doch ist sie nicht gleichbedeutend mit Resignation. Vielleicht liegt es daran, daß Lenz sich immer wieder, vor allem in seinen Rundfunkarbeiten, mit dem Hamburger Hafen und, als Hinterlassenschaft des Krieges, den »Wracks von Hamburg« beschäftigt hat, die ihn auf eine düstere Weise faszinierten: von dem frühen Hörstück »Die Nacht des Tauchers« (das dem Roman Der Mann im Strom um einige Jahre vorausging) bis hin zu dem späten Dialog »Die Bergung«. Das Wrack in seiner doppelten Bedeutung: als Zeichen des Scheiterns, aber auch als Aufforderung zurBergung, mithin zum Neubeginn, gehört zu den bestimmenden Leitmotiven von Lenz. So wie die Hauptfiguren dieser Texte Taucher sind, so reiht sich der Autor ein in die Garde jener »Gedanken-Taucher«, die, wie Melville schrieb, »zum Grund der Dinge hinabtauchen und mit blutunterlaufenen Augen wieder in die Höhe kommen«.
»Ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen«, hat Siegfried Lenz gesagt. Auch seine Wasserwelten sind reich an Geschichten, die meist nur beiläufige Anstöße brauchen und an scheinbar geringfügige Ursachen anknüpfen. Da reicht ein Weg durch den Hafen aus, um auf Geheimnisse zu stoßen, die in Geschichten verborgen liegen, und ein Spaziergang am Meeresufer genügt, um dem aufgesammelten Strandgut neue Geschichten abzulesen. Wie geht das zu? Man rührt mit der Frage an das Geheimnis der Kreativität. Der Maler Max Ludwig Nansen drückt es in der Deutschstunde mit den Worten aus: »Man beginnt zu sehen, wenn man aufhört, den Betrachter zu spielen, und sich das, was man braucht, erfindet: diesen Baum, diese Welle, diesen Strand.«
Hanjo Kesting, April 2007
Meer und Küste
... das gleiche Bild sehen wir selbst in allen
Flüssen und Meeren. Es ist das Bild vom unfaßbaren
Phantom des Lebens, und das ist der Schlüssel zum
Ganzen.
Herman Melville, Moby Dick
Also hier, wo Hilke und ich unseren Butt peddeten, soll es entstanden sein: Leben und all das; haben Sie so was schon mal gehört? Hier aus dem Watt, aus der schlammgrauen oder tonfarbenen Einöde, die von Prielen durchschnitten, von flachen Tümpeln durchsetzt war, soll sich nach Per Arne Scheßel, dem Schriftsteller und Heimatforscher, der Aufbruch vollzogen haben: wer atmen konnte und all das, erhob sich eines Tages vom Meeresboden, wanderte über den amphibischen Gürtel an den Strand, wusch sich den Schlamm ab, entfachte ein Feuer und kochte Kaffee. Mein Großvater schrieb das, dieser Einsiedlerkrebs.
Jedenfalls, wir waren draußen im Watt, um unsern Butt zu pedden, zogen über den glitschigen Meeresboden weit vor der Halbinsel, Hilke immer voran. Mit uns fischten die Seevögel. Hilke hatte ihr Kleid hochgezogen und vor dem Bauch gerafft, ihre Beine waren mit Mudd bedeckt bis zu den Kniekehlen, der Rand ihres Schlüpfers war schwarz vor Nässe. Die Seevögel fischten, indem sie ihre geöffneten Schnäbel durch das Wasser der Tümpelzogen, klappten, schmatzten. Die scharf eingeschnittenen Rinnen der Priele, ihre Verästelungen zur offenen See hin: wenn das Meer
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