Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
Beobachtungsposten auf dem Hügel seines Kanapees gebannt war, umarmte ihn, drückte ihn ganz fest und erdrückte ihn fast dabei. Darauf machte sie auf dem Absatz kehrt, taumelte unter kurzem, gleichwohl tiefem Aufschluchzen zur Tür, wo sie sich am Rahmen abstützte und einen winzigen verzweifelten Augenblick lang dem herrischen Blick ihrer Mutter aussetzte, die, zur Bildsäule gefroren, höchstens eine Armlänge entfernt dastand. Wortlos gab sie sich dann einen Ruck, wandte sich ab und verließ für immer den Raum. Die Tür schlug sie heftig hinter sich zu, worauf große Flecken Putz sich von der Wand lösten, zu Boden prasselten und in lauter kleine Stücke zerplatzten.
Wie kann eine Mutter ihr eigenes Kind bloß so überstürzt, von heute auf morgen im Stich lassen? Ausgestattet mit einem für das Erfassen und Begreifen solcher Tragödien viel zu schwachen Kinderverstand, kann sich der erschütterte, bis ins Mark getroffene Cornelius lange Zeit keinen Vers darauf machen und muss daher den unerklärlichen Vorfall einstweilen auf sich beruhen lassen. Wenn er auch später oft erzählt, er habe Bertha – mit diesem Namen wurde seine Mutter gerufen – seither nicht mehr wiedergesehen, ist das aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich ist ihm ihr geliebtes Gesicht nach diesem Zerwürfnis noch des Öfteren erschienen – und zwar nicht bloß in seinen Fieberträumen, sondern auch in der Wirklichkeit –, allerdings immer nur verschwommen, durch die Wimpern seiner nicht ganz geschlossenen Augen hindurch, wobei er jeweils vorschützte, tief und fest zu schlafen.
Zuweilen, mitten in der Nacht, nachdem er und die Großeltern längst zu Bett gegangen sind, holt ihn nämlich heftiges Läuten an der Wohnungstür aus dem Schlaf. Kurz darauf hört er erregte Stimmen im Flur: laut und fordernd die Stimme seiner Mutter, die danach verlangt, ihr Kind zu sehen, etwas gedämpfter die Stimmen der Großeltern, die ihre Tochter davon abhalten wollen, sofort ins Schlafzimmer zu stürmen. Stets ist es der Großvater, ist es Wilhelm, der dann einlenkt, der seine Tochter eindringlich ermahnt, nur still und leise zu sein und den Jungen nicht zu wecken. Dann öffnet sich die Schlafzimmertür, seine Mutter streift ihre hochhackigen Pumps ab, tritt sachten Schritts an das Bett heran und beugt sich, von einer leidenschaftlichen Regung ergriffen, über ihren Sohn.
Der reglos daliegende Cornelius bemüht sich angestrengt, nicht verräterisch zu blinzeln und trotzdem das Antlitz seiner Mutter so genau wie nur möglich in Augenschein zu nehmen. Sie scheint von einer Art Aureole umgeben, und sie kommt ihm vor wie ein blonder Engel – oder vielmehr wie eine auf tragische Weise aus dem Leben geschiedene Filmschauspielerin, deren Konterfei er aus einigen Lesezirkelillustrierten kennt, die Lena abonniert hat. In ihrem mit der Brennschere ondulierten Haar steckt ein ovaler Putz, von dem ein schwarzer Netzschleier herabhängt und bei jeder Kopfbewegung mechanisch mitwippt, ihre Augen wirken verquollen, die Lippen sind grellrot geschminkt, und sie riecht nach einem schweren, süßlichen Parfüm, aber auch nach Likör. Tränen rinnen ihr über die Wangen und hinterlassen schwarze Spuren; zittrig nestelt sie an ihrer Handtasche herum und flüstert dem Kind dabei leise und verloren ins Ohr: »Cornelius, mein Junge, mein lieber Junge.«
Er ahnt, dass die Großmutter, dass Lena im Türrahmen steht und die Szene mit Argwohn verfolgt. Ohnmächtig seufzend schickt sich die unglückliche Bertha ins Unvermeidliche und wendet sich zum Gehen. Am nächsten Morgen liegt auf dem Nachttisch ein neuer
Lederstrumpf
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nichtentflammtes gas strömt aus dem herd und hüllt unsichtbar den kopf des jungen ein von einem niedrigen schemel den er erklommen hat um nase und mund an die angelaufene glasscheibe des küchenfensters zu drücken erfolgt ein rückwärtiger sturz in tiefe ohnmacht anschließendes erwachen daraus in einem hohen lichten weißgekachelten raum der kinderklinik behaubte englische schwestern in gestärkter gebleichter tracht schweben geschäftig um ihn herum lächeln ihm zu reiben ihn mit streng riechenden tinkturen ein legen ihm bandagen an schütteln kissen auf und lassen ihn dann wieder allein das tosen der stille schwillt an zu einem wilden schrei
Im Juchhe, der Mansardenwohnung unter der Dachschräge, ein Stockwerk oberhalb der großelterlichen Wohnung, lebt ein Herr namens Klein, ein kahlköpfiger Mann, untersetzt und beleibt, der sich in
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