Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
noch unter Wasser marschiert, gibt sein Großvater dann schlagfertig zur Antwort und zieht damit Kleins Gerede ins Lächerliche.
Der Klein’schen Wohnung gegenüber lebt, gleichsam als Gegenpart, so unwahrscheinlich dies auch klingen mag, ein Herr Groß zur Miete – mit seiner Frau, einem halbwüchsigen Sohn und einem gelben Kanarienvogel. Herr Groß ist ein hagerer, ausgemergelter Mann mit schlohweißem Haar und gebeugter Haltung, der jeden Feierabend müden Tritts die abgewetzte, knarrende Treppe zu seiner Mansarde hochsteigt. Er ist Maurer von Beruf und trotz seines hohen Alters immer noch als Polier auf dem Bau beschäftigt.
Der Junge weiß von seinen Großeltern, dass dieser kreuzbrave Familienvater ungefähr zu jener Zeit von der Haustüre weg verhaftet und nach Dachau verschleppt worden war, als »der Hitler« holden Jungfrauen, die nächtens mit Vorliebe allein samt ihrem wertvollen Geschmeide durch verrufene Gassen der Stadt spazierten, seinen ganz speziellen Schutz hat angedeihen lassen. Besagter Hitler – oder auch »der Führer« – hat den Maurer nach ungefähr sechs Wochen wieder aus dem KZ herausgelassen, abgemagert und kurzgeschoren, ihm aber das Versprechen abgenommen, über das darin Erlittene kein Sterbenswörtchen verlauten zu lassen, denn sonst, erklärt der Großvater, hätten ihn des Hitlers Leute, die Nazis, noch einmal geholt und für sehr, sehr lange Zeit im Lager behalten.
Hält der biedere Herr Klein besagten Herrn Hitler anscheinend hoch in Ehren, so ist dieser etwas zu akkurat gescheitelte Mensch für die gestrenge Großmutter nichts weiter als ein gewöhnlicher Haderlump gewesen. Allerdings sagt sie das dem leutseligen Pensionär nicht ins Gesicht, sie gibt ihm im Gegenteil sogar Recht: Was die Diebstähle und Messerstechereien angehe, seien die Zeiten früher wahrlich besser und sicherer gewesen. Seltsam ist nur, dass die Großmutter oft, kaum dass der Herr Klein weg ist, schaurige Geschichten erzählt, die ihre Zustimmung Lügen strafen.
An einem dunklen Novemberabend hat die Großmutter mit eigenen Augen gesehen, wie der Besitzer eines Geschäfts für Haushaltswaren in Untersendling, ohne dass die anwesenden Polizisten dem wüsten Treiben Einhalt geboten hätten, von groben Kerlen unmenschlich misshandelt, seine zerbrechliche Ware in tausend Scherben zerschlagen und manches davon auch weggeschafft worden sei. Tags darauf sei der Laden, wie auch alle anderen jüdischen Geschäfte in der Stadt, für immer geschlossen worden. Die Schläger und Plünderer seien Hakenkreuzler, seien Hitlers Leute gewesen; obendrein hätten die marodierenden Lumpen der Sturmabteilungen, der verhasste braune Abschaum der Vorstadt, in dieser sogenannten Kristallnacht in der Lindwurmstraße, weiter stadteinwärts, ein zum Himmel schreiendes Verbrechen begangen und den jüdischen Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts durch einen Schuss in die Stirn umstandslos ermordet.
Der besagte Untersendlinger Krämer ist jedenfalls ein Mensch wie du und ich gewesen, ein geachteter und wohl auch beliebter, äußerst reeller jüdischer Geschäftsmann, der, wie sie dem Jungen gegenüber eigens betont, zuvor niemanden übervorteilt, geschweige denn irgendetwas Unrechtes getan habe. Ganz im Gegenteil, seiner Kundschaft gegenüber sei er, beteuert sie, stets anständig und freundlich begegnet; jederzeit habe er ohne weiteres angeschrieben und ihr, aber auch anderen Hausfrauen, so manches schöne Stück aus seinem Angebot, eine Kanne etwa, eine Schüssel oder einen Topf, ein ganzes Service gar, preiswert und günstig abgegeben.
Hitler, der angebliche Beschützer der Jungfrauen, ist in Wahrheit ausgesprochen feige gewesen. Als er noch nicht der große, von allen geliebte, von manchen gefürchtete, unangefochtene Führer gewesen ist, weiß die Großmutter zu erzählen, sei er nämlich wie ein Hase vor der Polizei der alten Regierung davongelaufen und habe seine Anhänger schmählich im Stich gelassen. Ihre Schwägerin, die Tante Hilde, mit der sie am Tag des sogenannten Hitlerputsches in der Innenstadt unterwegs war, hatte sie auf den in seinem gelben Mantel Fliehenden aufmerksam gemacht mit dem höhnischen Ruf: »Doa lafft a, da Lump!«
An manchen Tagen wirkt seine Großmutter Helena sehr alt, gebrechlich und steif. Sie ist noch zu Kaisers Zeiten auf die Welt gekommen, geht aber erst auf die sechzig zu. Gram, Schande und Kummer haben sie frühzeitig verbittern lassen. Helena taut immer nur dann auf, wirkt beinahe wieder
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