Weg mit den Pillen
(auch wenn das mit der Temperaturmessung in dieser Zeit noch nicht ganz so einfach war). Sie hätten dennoch die Überzeugung geteilt, das Herz sei ein Konvektionserwärmer. So ist es etwa heute, wenn man überlegt, ab wann man bei der Behandlung der koronaren Herzkrankheit einen operativen Bypass legen soll. Den Grundkonsens hinterfragt niemand, nämlich dass
es hier darum gehen muss, eine mangelnde Blutversorgung durch eine künstliche Hilfe zu verbessern. Die Frage ist höchstens, wie, und nicht ob. Solche Streitpunkte sind relativ leicht zu klären: Man untersucht die Frage methodisch sauber und weiß es anschließend. Davon zu unterscheiden sind Streitereien, die sich ergeben, weil zwei Diskussionspartner die paradigmatischen Grundlagen oder die jeweiligen Voraussetzungen nicht teilen. Hier geht es immer um einen komplett anderen Denkrahmen. Das Problem dabei ist Folgendes: Die Bezweiflung der paradigmatischen Grundannahmen des Diskussionspartners findet fast immer implizit statt und wird selten thematisiert. Das ist einfach deshalb so, weil uns unsere Grundannahmen selten bewusst sind. Sie sind wie die Luft, die wir atmen. Oder bezweifeln Sie etwa, dass man Signale braucht, wenn man sich mit jemandem verständigen will? Wenn dieser jemand nahe ist, kann man lächeln oder reden. Wenn er weiter weg ist, benötigen wir ein Telefon, einen Kurier oder Internettelefonie. Das findet doch jeder absolut plausibel, oder? Würde Denken allein helfen? Nur die innere Vorstellung? Hier berühren wir einen schwierigen Punkt. Im Rahmen unseres Paradigmas würden wir Rationalisten des 21. Jahrhunderts sagen: natürlich nicht. Australische Aborigines aber, die noch keine Telefone hatten, haben sich, so sagen sie, über Jahrhunderte mit ihren Angehörigen oft nur rein mental verständigt (ging ja auch nicht anders). Das ist ein völlig anderes Paradigma, ein anderer Denkrahmen. Wenn wir nun – von diesem Denkrahmen der Aborigines ausgehend – unser heutiges westliches Weltmodell ein bisschen ins Schaukeln bringen wollen und sagen: »Ich kann mit meinen Liebsten auch ohne Telefon kommunizieren, nur in Gedanken«, dann wird’s brenzlig und wir bekommen eins auf die Finger.
Man rührt nämlich an Tabuzonen, wenn man paradigmatische Grundlagen anzweifelt. Deswegen sind die Dispute so heftig, werden oftmals unfreundliche Vokabeln benutzt und nicht selten wird dem Partner die Kompetenz abgestritten. Oftmals kommt ein zusätzliches Problem hinzu: Das in Zweifel stehende Phänomen ist meistens auch in sich schlecht untersucht. Kunststück, vorher hat
sich ja niemand drum gekümmert. Harvey war der erste, der den Herzschlag untersuchte. Natürlich werden wir in seiner Schrift nicht nur richtige Aussagen über den Herzschlag finden.
Ein gutes aktuelles Beispiel ist die Debatte um die Homöopathie: Die Behauptung der Homöopathie, Arzneien ohne molekularen Inhaltsstoff könnten wirksam sein, verträgt sich schlecht mit unserem Wissen um Pharmakologie und Biochemie. Daher geht es nicht nur um die Frage: Wie funktioniert Homöopathie konkret? Sondern es geht auch um die Frage, ob sie überhaupt funktioniert. Die Behauptung der Homöopathen, Substanzen, die so verdünnt sind, dass keine Moleküle mehr darin enthalten sind, könnten eine physiologische Wirkung entfalten, lässt sich mit keinem bekannten Modell verstehen. Also richtet die homöopathische Lehre eine ganz grundsätzliche Anfrage an das geltende Paradigma. Das gefällt den meisten nicht. Denn warum etwas Bewährtes hinterfragen, das allen doch so sehr nützt und für das es viel Bestätigung gibt? Soll man sich denn von ein paar Kügelchen wild machen lassen?
Noch dazu lassen sich die Befunde der Homöopathie mit den herkömmlichen Methoden schlecht reproduzieren oder belegen. Das ist das doppelte Dilemma: Eine Anomalie attackiert meistens ein herrschendes Denkmodell und es ist mit dessen Methoden in der Regel schlecht zu untersuchen. Harvey konnte sein Modell nicht mit den damals üblichen Methoden belegen, er konnte nicht einfach die aristotelischen Lehrsätze nehmen und eine Ableitung daraus vornehmen. Er musste eine neue Methode erfinden. Er tat das, was vor ihm noch keiner getan hatte, jedenfalls nicht an lebenden Organismen. Er führte eine Vivisektion durch, um das schlagende Herz zu sehen und zu zeigen.
Das ist nun ein vergleichsweise drastisches und auch einleuchtend triviales Beispiel. Oft ist es nicht ganz so einfach. Denn auch Methoden beruhen auf
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