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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Anonyme Hexenjäger. Billy trug eine Schachtel, die nicht zur Expeditionsausrüstung gehörte: Darin hockte eine junge Krähe, die sie unter einem Busch gefunden hatten. Die Vogelmutter hatte wohl versucht, ihr das Fliegen beizubringen, und dabei war das Junge aus dem Nest gefallen. Billy hatte es gerettet, was die ganze Expedition verzögerte. Sobald sie alles ausgekundschaftet hatten, wollte er den Vogel bei der Tierärztin abliefern – Rumer Larkin wohnte nur zwei Häuser von Stevie Moore entfernt.
    Sie nahmen die Abkürzung über das Anwesen, auf dem die alte Jagdhütte stand, spähten nach links und rechts, dann liefen sie geduckt zur Seite des weißen Hauses mit dem Schindeldach hinüber. Der Boden fiel steil zum Strand ab – es erwies sich als ein schwieriges Unterfangen, einen sicheren Stand für die Leiter zu finden. Jeremy Spring rammte einen der beiden Holme in den Boden, Rafe Morgan glich die Unebenheiten mit Steinen unter dem anderen Holm aus, und dann krachte das obere Ende der Leiter mit einem dumpfen Knall gegen die Hauswand. Die übrigen Jungen verkrochen sich eilends im Gebüsch. Alle hielten den Atem an, rechneten damit, dass ein wutentbranntes Gesicht im Fenster erschien – Billy schlüpfte unter eine zerzauste Eibe und umklammerte die Schachtel. Er wusste, ihr Vorhaben war falsch – ihre Mütter würden sie umbringen, wenn sie erwischt wurden. Und was hofften sie überhaupt zu sehen, selbst wenn es ihnen gelingen sollte, unbemerkt ins Haus zu gelangen?
    »Lassen wir es lieber bleiben«, sagte er, während er die Fenster beobachtete.
    »Dafür ist es jetzt zu spät«, meinte Rafe.
    »Was soll da drinnen schon groß zu sehen sein?«
    »Sie ist splitterfasernackt, wenn sie zaubert«, erklärte Jeremy.
    »Ja, genau.«
    »Heißt es jedenfalls.«
    Zwei Jungen hielten die Leiter fest, während Jeremy und Eugene Tyrone miteinander rangelten, wer als Erster hinaufklettern durfte. Eugene trug den Sieg davon. Er stieg die Sprossen hoch. Da das Haus ins Riff hineingebaut war, hatte das Gelände auf dieser Seite ein ziemlich starkes Gefälle. Die Jungen wussten nicht, was sich hinter den Fenstern verbarg – Wohnzimmer, Schlafzimmer, Zauberkabinett oder Folterkammer. Sie blickten gespannt zu Eugene hinauf, um zu hören, was es drinnen zu sehen gab.
    »Hey! Was macht sie gerade?«
    »Sag schon!«
    Jeremy rüttelte leicht am Fußende der Leiter. Eugene streckte seine linke Hand in die Luft, gebot ihnen zu schweigen. Die Jungen standen reglos da, die Köpfe in den Nacken gelegt. Es war unfair, dass sich Eugene so viel Zeit ließ. Eine knorrige Eiche, verkrüppelt vom Sturmwind, wuchs neben dem Haus, und Rafe und Jeremy begannen hochzuklettern, um ebenfalls einen Blick auf das Bild zu erhaschen, das Eugene vor Augen hatte.
    »Kannst du sie sehen?«, fragte Rafe.
    Eugene nickte stumm, mit gerunzelter Stirn. Dann schüttelte er den Kopf, als sähe er etwas, das ihm nicht behagte, und begann mit dem Abstieg.
    »Ist sie splitter-faser-nackt?«
    »Hackt sie gerade ein paar Salamandern die Schwänze ab?«
    »Hast du ihre Schrumpfkopf-Sammlung gesehen? Das macht sie nämlich mit Kindern, die durch ihre Fenster spähen«, sagte Billy in normaler Lautstärke, während alle anderen geflüstert hatten. Rafe pflückte eine Hand voll grüne Eicheln von einem Ast, um ihn damit zu bombardieren – mit aller Kraft, dass sich die Eicheln wie Kugeln aus einem Schrotgewehr anfühlten. Billy ließ die Donut-Schachtel fallen, der Vogel wurde herausgeschleudert, und als Billy sich auf ihn stürzte, um ihn wieder einzufangen, krachte er gegen die Leiter. Zunächst schwankte sie leicht, dann fiel sie mit einem Mordsgetöse zu Boden.

    Stevie hatte keine Ahnung, was in sie gefahren war. Sie saß an der Staffelei, starrte auf das Papier, unfähig zu malen. Sie trug ein Kleidungsstück, das ein verflossener Liebhaber ihre »Willkommen im Schwarzen Loch des Universums«-Robe genannt hatte: einen alten cremefarbenen Morgenrock aus Satin mit dunkelblauen chinesischen Schriftzeichen. Es hieß, dass er von Joan Morgana in ihrer Garderobe getragen worden war, einem aufgehenden jungen Stern der Metropolitan Opera, die eine verhängnisvolle Affäre mit einem berühmten Tenor durchlitten und kurz nach der Aufführung von Madame Butterfly Selbstmord begangen hatte. Tief bewegt von der fatalen Liebesgeschichte und kurz nach ihrer Trennung von Linus, hatte Stevie den Morgenrock im Opera Thrift Store, einem Secondhand-Laden an der East

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