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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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dieser sah es ganz danach aus, als würde er aus dem Wasser auftauchen – ein kupferfarbener Himmelskörper, der lautlos von einem Element in ein anderes hinüberglitt. Er würde zunächst milchig schimmern, dann ein klares, strahlendes Weiß annehmen und zunehmend kleiner werden, wenn er am Firmament emporstieg und sein Licht das Wasser des Sunds erhellte. Die Leute würden gebannt zuschauen, stumm und sprachlos vor Staunen. Der Vollmond von Hubbard’s Point war das Warten allemal wert.
    Nell hatte vorgehabt, zusammen mit ihrem Dad zuzuschauen, doch dann lud Peggys Mutter die beiden zu einem Picknick ein, das ihre Gruppe vorher veranstaltete. Nell war überglücklich, als ihr Dad zusagte. Gegen sechs Uhr abends, lange vor Einbruch der Dunkelheit, gingen sie die Strandwege entlang zu Peggys Elternhaus. Es war ein altes Farmhaus, größer als die meisten Cottages am Strand, auf der anderen Seite der Marsch und dem Rest von Hubbard’s Point gelegen.
    »Wer ist sonst noch dort?«, wollte ihr Vater wissen, als sie in den schmalen Pfad einbogen, der durch das hohe Schilfgras führte.
    »Peggy natürlich. Und ihr Bruder Billy, ihre Schwester Annie und ihre Stiefschwester Eliza. Das sind Teenager. Außerdem ihre Mom, die wirklich nett ist, und ihr Stiefvater, der Boote baut. Er ist auch nett. Und ihre Tante, die nicht ihre richtige Tante ist, mit Joe, ihrem Verlobten. Er ist beim FBI !«
    »Wow!«
    Nell lächelte stolz, weil sie hier schon so viele Leute kannte. Sie kamen zu den alten Holzplanken, die über den morastigen Boden gelegt waren, und Nell hielt beim Überqueren die Hand ihres Vaters. Er meinte vielleicht, er sei ihr eine Hilfe, aber in Wirklichkeit war es genau andersherum, sie half ihm. Peggy und sie benutzten diesen improvisierten Steg jeden Tag.
    »Wer sonst noch?«, fragte er, als das Haus in Sicht kam.
    »Wer sollte sonst noch kommen?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht deine Freundin Stevie?«
    »Du hast mir doch gesagt, dass ich sie nicht mehr besuchen darf!« Nell drehte sich abrupt um. Sie starrte ihren Vater an, der den McCabe- und O’Toole-Clan, der sich um den Picknicktisch im Garten geschart hatte, mit den Augen abzusuchen schien.
    »Um sie nicht zu stören«, sagte ihr Vater. »Aber ich bin sicher, dass sie hin und wieder ausgeht und Freunde besucht – es wäre ja möglich, dass sie ebenfalls eingeladen ist, um sich den Mondaufgang anzuschauen. Das ist alles.«
    »Sie ist eine Einsiedlerin, Dad«, erwiderte Nell finster. »Sie geht nicht aus.«
    »Schon gut. Beruhige dich, Nell.«
    Nell funkelte ihn an. Sie waren am Lattenzaun angekommen, der das Anwesen umgab. Peggy entdeckte sie als Erste und winkte. Nells Vater öffnete das Tor, und Nell sah ihn an. Sie liebte ihn unsäglich, aber er verstand alles falsch. Wusste er nicht, dass Stevies Einladung zum Abendessen ein ganz außergewöhnliches Ereignis gewesen war? Sie ging nie unter Menschen. Sie hatte sie eingeladen, weil sie auf magische Weise miteinander verbunden waren – durch Nells Mutter und Tante Madeleine.
    »Hallo Nell, hallo Mr. Kilvert!«, rief Peggy und lief ihnen entgegen.
    »Hallo Peggy«, sagte Nells Vater und trat durch das Tor.
    Nell stand reglos da, unfähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie rührte sich auch dann nicht vom Fleck, als Peggys Mutter und ihr Stiefvater kamen, um sie zu begrüßen. Ihr Vater schüttelte beiden die Hand, wobei er Nell immer wieder einen raschen Blick zuwarf. Sie spürte die Aura, die sich manchmal bemerkbar machte – ein Gemisch aus Wut und Enttäuschung, weil ihre Mutter tot und ihre Tante aus ihrem Leben verschwunden war und weil ihr Vater nichts kapierte. Sie stellte sie sich wie eine große schwarze Wolke über ihrem Kopf vor.
    Doch da sie den anderen nicht die Stimmung verderben wollte, schüttelte sie das Unbehagen ab. Sie lächelte Peggy und ihre Eltern starr an – ignorierte ihren Vater. Peggy nahm sie an die Hand, ging mit ihr zum Tisch. Nell war die Lust zu feiern vergangen, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als mitzuspielen, so oder so.

    Jack wusste, dass ihm wieder einmal ein Schnitzer unterlaufen war – dass er das Falsche gesagt hatte. Er war der Ansicht gewesen, es würde sie freuen, von Stevie zu sprechen. Stattdessen hatte sich Nell vor seinen Augen in ihr Schneckenhaus verkrochen, als hätte er gerade eine Todsünde begangen. Wenn er ehrlich war, wusste Jack im Grunde, dass seine Frage relativ wenig mit Nells Gefühlen zu tun hatte. Er hatte wissen wollen, ob

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