Wege im Sand
Festigkeit der mütterlichen Hand zwischen ihren Schulterblättern, an Emmas lange Wimpern, die ihre großen grünen Augen einrahmten, als sie ihre neue – und erste – Freundin ansah.
»Es war wie eine arrangierte Ehe, Emma«, hatte Stevie einmal gesagt. »Unsere Mütter hatten alles genau geplant, in dem langen Winter nach unserer Geburt. Es war vorherbestimmt, dass wir uns gut verstehen, noch vor unserer ersten Begegnung. Wenn man darüber nachdenkt, blieb uns überhaupt keine andere Wahl.«
»Aber was wäre gewesen, wenn wir uns nicht so gut – oder gar nicht – verstanden hätten? Wenn wir alle beide auf den ersten Blick in Tränen ausgebrochen wären? Wenn wir das Wasser gehasst und angefangen hätten, uns mit Sand zu bewerfen? Wenn nur eine von uns den Strand geliebt hätte?«
»Das wäre nie passiert«, hatte Stevie zuversichtlich erwidert.
»Warum nicht?«
»Weil wir Beachgirls sind. Genau wie unsere Mütter vor uns …« War der Name damals zum ersten Mal gefallen?
Ungeachtet dessen war Emma keine andere Wahl geblieben, als mitzuspielen – das Leben selbst hatte sie davon überzeugt –, denn Stevie und sie verbrachten während ihrer Kindheit jeden Sommer in Hubbard’s Point an der Küstenlinie von Connecticut. Sie waren barfuß am Strand entlanggelaufen, hatten Krebse in der Marsch hinter dem großen blauen Haus gefangen, waren auf dem verborgenen Pfad zum Little Beach gewandert oder mit dem Fahrrad zu Foley’s Store gefahren, um Süßigkeiten zu kaufen, hatten Wettschwimmen zum Floß veranstaltet – wo sie auf die Holzplanken geklettert waren, die warm von der Sonne waren, und hatten mit angehaltenem Atem auf die sanfte Rundung des Strandes zwischen den beiden felsigen Landspitzen geblickt, auf das kleine Stückchen Himmel auf Erden, das sie als ihr Zuhause bezeichneten.
Am Abend wirkte Hubbard’s Point nicht minder verzaubert. Die Milchstraße bahnte sich einen weißen Weg durch den Himmel. Eichenblätter raschelten im Wind, der vom Meer herüberwehte, und Ende August nisteten Eulen in den Zweigen, deren geheimnisvolle Rufe die ganze Nacht erklangen. Stevie malte sie oft, die Vögel vom Point.
Sie zeichnete Karikaturen von ihnen, mit Botschaften an Emma über die Jungen, für die sie schwärmten. Emma versuchte ebenfalls zu malen, aber sie gab jedes Mal auf. Sie warf das zerknüllte Papier auf den Boden und meinte, sie mache sich nichts aus Kunst, weil sie eines Tages berühmt sein würde – als Model. Stevie glaubte ihr unbesehen. Emma war hübsch und kokett, und alle Jungen waren hinter ihr her.
Dann bezog Madeleine mit ihrer Familie ein Ferienhaus am Strand. Stevie und Emma lernten sie in der Schlange vor dem Good-Humor-Eiswagen kennen. Emma hatte nicht genug Geld dabei, um sich ein Schoko-Chips-Eis zu kaufen, und Madeleine streckte ihr den fehlenden Betrag vor. So war Maddie: immer freundlich, großzügig und versessen auf Eiscreme. Stevie und Emma bezogen sie umgehend in ihre Freundschaft ein.
An den Sonntagabenden gingen die Mädchen die Steintreppe hinunter, die von Stevies Elternhaus auf dem Point zum Strand führte, wo unter freiem Himmel Filme gezeigt wurden. Die Filme waren meistens alt – manche noch in Schwarzweiß. Einige waren leicht verdauliche Kost und lustig wie Ein toller Käfer oder Alle lieben Pollyanna, andere waren düster und schwer zu verstehen – mehr für die Eltern, fand Stevie, zum Beispiel Wenn der Postmann zweimal klingelt.
Doch was sich auf der Leinwand abspielte, interessierte die Mädchen eigentlich nicht besonders. Sie gruben eine Kuhle in den Sand, breiteten ihre Decke aus, sprühten sich gegenseitig die Füße mit Insektenschutzmittel ein, aßen Eis und warteten, dass es dunkel wurde und die Vorführung begann.
Die Kinofilme sorgten dafür, dass die Sommer vielschichtiger und die Mädchen reifer wurden. Stevie erinnerte sich noch an den Sommer, als sie fünfzehn waren und Jungen zum ersten Mal ernsthaft auf den Plan traten.
Der Kinofilm an besagtem Abend gehörte zur düsteren Eltern-Kategorie, mit ausschließlich erwachsenen Darstellern, die sich nach allen Regeln der Kunst küssten. Stevie saß neben Creighton Reid, Maddie neben dessen Bruder Hunter, und Emma kuschelte mit James Martell. Ihre Decken lagen nebeneinander. Stevie erinnerte sich, dass Maddie und sie sich mindestens in gleichem Maße für die Vorgänge auf Emmas Decke wie für die eigenen Erfahrungen interessierten. Stevie befürchtete, dass Creighton Reid sie
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