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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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erfolgreich verdrängt. Manchmal gelangte er zu dem Schluss, dass er nicht gut genug für sie gewesen sei. Sie war in den letzten beiden Jahren die Selbstlosigkeit in Person geworden. Ihre ehrenamtliche Tätigkeit für die Kirche hatte sie von Grund auf verändert. Dem Priester war es gelungen, sie tief in ihrer Seele zu berühren und sie in einen Menschen zu verwandeln, der nur noch geben statt nehmen wollte. Welche ihrer gut betuchten Nachbarinnen, denen es wie ihr an nichts fehlte, würde freiwillig im Dixon Correctional Institute arbeiten? Dass sie so viel Zeit in der Strafanstalt verbrachte, zeigte einmal mehr, was für eine bewundernswerte Frau sie war. Die den Wunsch hatte, Menschen bei ihrem Lebenskampf zu helfen.
    Denk nicht mehr daran, ermahnte sich Jack. Schau dir lieber den Mond an – sag dir einfach, dass du deine Frau vermisst, die Mutter deiner Tochter. Besinne dich darauf, wie du dich hier am Strand in sie verliebt hast. Deshalb bist du schließlich nach Hubbard’s Point gekommen, um die Erinnerung aufleben zu lassen. Denk an Emma, wie sie damals war. Wie sehr ihr euch geliebt habt …
    Die fünf Phasen der Trauer waren mehr als graue Theorie, wie er wusste. Sie waren Realität. Er hatte sie mit den einzelnen Schritten in einem Entwicklungsprojekt verglichen, die man sich erarbeiten musste: nach Plan, im Zeitrahmen und unter Berücksichtung des Budgets. Aber sie waren anders abgelaufen, als er dachte. Hatten überhaupt keinem Plan entsprochen, der sich praktisch umsetzen ließ. Er hatte sie im Hauruckverfahren hinter sich gebracht, und nun schien er, obwohl er es schon nicht mehr geglaubt hatte, am anderen Ende des Tunnels angekommen zu sein.
    Er wusste es, weil er sich dabei ertappte, wie sein Blick immer wieder nach Osten schweifte, über die Marsch, am Strand vorbei, zur felsigen Landspitze hinüber. Die Häuser waren weit entfernt, aber er konnte Stevies Cottage über der Baumlinie erkennen. Plötzlich hörte er Peggy rufen, dass sie sich beeilen müssten – wenn sie den Vollmond nicht verpassen wollten.
    Vollmondnächte waren für ihn immer ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Er war Ingenieur, an den Umgang mit absoluten Größen gewöhnt. Er zeichnete maßstabgetreue, detaillierte Pläne, und nach seinen Vorgaben wurden Brücken, Gebäude und Ölbohranlagen errichtet. Er bevorzugte – und erwartete – konkrete Ergebnisse. Die Gesetze der Physik waren unumstößlich, und das gefiel ihm.
    Der Mond und die fünf Phasen der Trauerarbeit fielen in eine völlig andere Kategorie: Father Kearsage hätte sie »unergründliches Geheimnis« genannt. So hatte der Priester Emmas Verwandlung bezeichnet. Obwohl Jack zu dem Zeitpunkt blind vor Wut gewesen war, blieb der Ausdruck des Priesters in seinem Gedächtnis haften. Als er festgestellt hatte, dass er nicht von Kearsage selbst stammte, sondern den Schriften eines Mönchs aus Kentucky entlehnt war, fand Jack sogar Gefallen daran. Zu den »unergründlichen Geheimnissen« gehörten für ihn die Gezeiten des Meeres, Liebeskummer, Gefängnismauern, spirituelle Befreiung, Lüge und Wahrheit, sich verlieben und der Umzug nach Schottland.
    Stevie schloss er ebenfalls mit ein, irgendwie. Ihre Zeichnungen, ihr Anblick in dem weißen Morgenmantel, der schwarze Vogel, den sie mit Insekten aus ihrem Garten großzog, die liebevolle Zuwendung, die sie Nell entgegengebracht hatte – und ihm –, und die Empfindungen, die sie in ihm geweckt hatte, vor zwei Wochen in der Morgendämmerung, als er sie heimlich beim Schwimmen beobachtete. Als er sich nun vorstellte, wie das klare dunkle Wasser von ihrem nackten Körper abperlte, ging ihm mit einem Mal ein Licht auf: Ich will nicht nach Schottland ziehen.
    Aber wie konnte er einen Rückzieher machen? Er saß in der Zwickmühle.
    Unergründliche Geheimnisse, dachte er. Ein poetischer Name für das Ringen um Erkenntnis. Er hatte einen Vertrag unterzeichnet, Pläne gemacht. Die konnte er ändern – mit Sicherheit. Während des Abendessens mit seiner Tochter und seinen neuen Freunden hörte er aufmerksam zu und trug sein Scherflein zur Unterhaltung bei, lachte über Witze und schloss sich schließlich der Prozession an, die durch die Marsch und über den Damm zum Strand pilgerte.
    Bekannte und Verwandte der beiden Familien versammelten sich an der Gezeitenlinie. Den Blick nach Osten gewandt, auf den spiegelglatten Sund, warteten sie mit unerschütterlicher Überzeugung auf das Wunder. Genau das ist erforderlich,

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