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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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nichts geschehen. Sie haben starke Flügel, die selbst dem größten Sturm trotzen.«
    »Wie kommt es, dass nur ein Kolibri eine rote Kehle hat?« Nell hatte das Vogelpaar beobachtet und das schillernde grüne Gefieder bemerkt, die Flügel ein verschwommener Farbklecks, die langen Schnäbel in die Blüten getaucht.
    »Das ist das Männchen. Sie haben eine rubinrote Kehle. Die Natur hat ihnen eine kräftigere Zeichnung verliehen, aber ich finde die Weibchen genauso hübsch – sie gefallen mir fast noch besser. Ihre Schönheit ist unaufdringlich und geheimnisvoll.«
    »Warum hat die Natur das so eingerichtet?«
    »Damit sich das Weibchen von dem Männchen angezogen fühlt. Und von ihm vor Raubtieren geschützt wird.«
    Nells Augen füllten sich mit Tränen. Sie wusste nicht, was »Raubtiere« bedeutete. War es auf einer holperigen, mit Schlaglöchern übersäten Landstraße passiert? Hatte ihre heiß geliebte Tante die falsche Abfahrt genommen und sich in der Dunkelheit verfahren? Waren die gleichen Monster gekommen, die sie mitten in der Nacht heimsuchten, jede Nacht, um sie daran zu erinnern, dass ihre Mutter tot war?
    »Was ist, Nell?«, fragte Stevie mit fester Stimme, doch mit traurigem Blick.
    »Ich vermisse sie, alle beide«, flüsterte Nell.
    Stevie nahm sie in die Arme, hielt sie fest, und Nell spürte, dass sie an die Beachgirls dachte, an Nells Mutter und Tante. »Ich weiß«, flüsterte sie. »Ich vermisse sie auch.«

    Am Abend, als Nell eingeschlafen war, griff Jack zum Hörer und wählte die inzwischen beinahe vertraute Nummer. Sein Herz klopfte, aber nicht so schlimm wie beim ersten Anruf. Dieses Mal war er gerüstet – er würde sich melden, Hallo sagen, sich erkundigen, wie es Chris und ihr ging. Er würde ihr sagen, dass er von ihrem Besuch bei Stevie gehört hatte. Und dass Nell sie vermisste.
    Beim dritten Läuten hob sie ab.
    »Hallo?«
    Jack schloss die Augen.
    Sein Herz raste. Das war kein Sprint im Flachland, sondern eine Kletterpartie in den Bergen, zu steil für ihn. Wenn er mit ihr redete, sich auf eine Aussprache einließ, würde er seinen letzten Halt verlieren, die Scharade von der heilen Welt – seinen stählernen Panzer, der ihm geholfen hatte, das letzte Jahr durchzustehen. Er würde zugeben müssen, dass er inzwischen glaubte, was sie ihm über Kearsage erzählt hatte. Und Nell würde unter Umständen die Wahrheit herausfinden … Seine Hände waren schweißnass, so dass ihm der Hörer entglitt.
    »Ich bin froh, dass du angerufen hast«, sagte sie mit brechender Stimme.
    Woher wusste sie, dass er es war? Einfach so? Woher wusste sie es, selbst wenn sie eine Rufnummererkennung hatte, dass der Anruf aus dem gemieteten Ferienhaus kam?
    »Ich vermisse dich.« Ihre Stimme klang tränenerstickt. »Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und alles ungeschehen machen … ich vermisse meinen großen Bruder.«
    Jacks Kehle war wie zugeschnürt, er brachte keinen Ton heraus. Er hörte sie leise schluchzen und wollte es nicht noch schlimmer machen. Leise, wortlos, legte er auf.

17. Kapitel
    M adeleine wusste, dass es Jack gewesen war. Sie hatte eine Rufnummererkennung, und der Anruf kam aus Hubbard’s Point, Connecticut; sie hatte außerdem im Telefonbuch nachgeschaut und festgestellt, dass es nicht Stevies Nummer war, also musste es seine sein. Sie saß im Arbeitszimmer ihres neoklassizistischen Hauses, trocknete sich die Augen und fror trotz der warmen Sommerluft, die durch das offene Fenster drang.
    Chris steckte seinen Kopf zur Tür herein. Beim Anblick seiner strahlend blauen Augen und ergrauenden blonden Haare zwang sie sich zu einem Lächeln, bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er sich um sie keine Sorgen machen musste. Seit sie von ihrem Besuch bei Stevie zurück war, sah er noch häufiger nach ihr als sonst. Seine Aufmerksamkeit erinnerte sie an seine Fürsorglichkeit in den Monaten nach dem Unfall, als sie sich in einem grauenhaften Zustand befunden hatte.
    »Wer war das?«, fragte er.
    »Da hatte sich jemand verwählt.«
    »Ich dachte, ich hätte dich reden gehört …«
    Wenigstens sagte er nicht »weinen«. »Ich bin eben ein höflicher Mensch.« Sie lächelte.
    Chris kehrte beruhigt zu seinem Baseballspiel zurück, das im Fernsehen lief. Madeleine zitterte. Sie hasste es, ihren Mann zu belügen. Aber wenn sie ihm erzählt hätte, dass ihr Bruder angerufen hatte, würde er ausrasten und ihm die Meinung geigen. Was Madeleine gut nachfühlen konnte, weil es ihr

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