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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Mal, kurz bevor sie damals weggefahren war. Im Beisein von Stevie hatte sie diesen Ton auch noch nie gehört. Nicht einmal als er wütend war, wie an dem Abend in Stevies Haus, als es um Tante Maddie ging. Da hatte er sich ihretwegen aufgeregt und seine Daddystimme benutzt, die Familienmitgliedern vorbehalten war – Tante Maddie zum Beispiel.
    Jetzt erzählte er etwas über eine Schenkung von Schloss und Ländereien, kostenfrei erworbene Vermögensgegenstände, Steuerbegünstigung … lauter Sachen, von denen Nell nichts verstand. Aber sie erkannte auf den ersten Blick, dass Tante Aida und Stevie interessiert, ja sogar sehr zufrieden aussahen. Ihr Vater holte einen Block und ein Maßband heraus und machte sich Notizen. Er vermaß die Dicke der Wände, die Höhe der Decken.
    Tante Aida wies ihn auf Dinge wie Trockenfäule und Termitenlöcher hin, und ihr Vater nahm sein Taschenmesser heraus und bohrte ein wenig in der Holzverschalung am Fußboden herum. Er murmelte etwas von einer Analyse, die durchgeführt werden müsse, um sich Gewissheit zu verschaffen, aber er habe keine Insekten oder Eier entdeckt. Tante Aida schien erleichtert.
    Sie traten durch eine kleine Tür in der Mauer und fanden sich in einem dunklen engen Raum mit einer Wendeltreppe wieder. Er erinnerte Nell an ein Gefängnis. Ein kleines Buntglasfenster spendete nur schwaches Licht, und Tante Aida zog eine Taschenlampe aus ihrem Malerkittel, um ihnen zu leuchten. Nell fürchtete sich, weil sie die Hände der Erwachsenen loslassen musste, aber sie nahmen sie in die Mitte, als sie die Stufen emporstiegen, und Nell wusste, dass sie heil ankommen würde.
    Stevie sagte etwas von einem »Naturkundezentrum« und Tante Aida meinte, »Hundertvierundsechzig Morgen Land würden ein herrliches Naturschutzgebiet abgeben«, und ihr Vater sagte: »Das Schloss ist unglaublich, es sollte in seiner ursprünglichen Form erhalten bleiben«, und Tante Aida rief: »Vielen Dank für den Zuspruch! Die Baufirmen wollen alles umkrempeln und modernisieren, mit Kinos und Whirlpools!«
    Als sie die vier hohen Stockwerke bis zur Spitze des Turmes erklommen hatten, war ihr, als träte sie aus dem Gefängnis in einen sonnenüberfluteten Garten hinaus. Der Turm bot einen Ausblick über das gesamte Tal, geradewegs bis zum silbern glänzenden Meer. Moos und Unkraut wucherten in den Spalten der Steine. Wahrscheinlich war der Samen von unten heraufgeweht worden, denn Wildblumen wuchsen aus den rissigen Mörtel, wiegten sich im Sommerwind.
    Nell blinzelte im hellen Sommerlicht, blickte über die Wipfel der Bäume. Vögel hüpften von Ast zu Ast. Sie dachte an Stevies Geschichte über die Hügelketten mit den Georgia-Kiefern und knorrigen alten Eichen, über das Rotwild und die Kaninchen, die Singvögel und Eulen. Es war ein unerklärliches Wunder: Sie hatte eine Märchenwelt betreten, mitten im wirklichen Leben. Sie rechnete beinahe damit, dass vor ihren Augen ein weißer Hirsch oder ein Einhorn aus dem Wald hervorsprang.
    Die Wälder erstreckten sich bis in endlose Ferne. Ihr Vater erklärte in ruhigem Ton, jedoch mit unverkennbarem Eifer, dass sie erhalten werden könnten, genau wie das Schloss. Tante Aida stellte eine Frage nach der anderen: Wie sollte sie genau vorgehen, an wen sollte sie sich wenden, welche Dokumente sollte sie unterschreiben?
    Stevie löste sich aus der Gruppe der Erwachsenen, kam zu Nell herüber und ging neben ihr in die Hocke. Gemeinsam betrachteten sie die dichten Kiefernwälder, die hohen, uralten Eichen, das Gewirr der Kletterpflanzen mit den roten Blüten, die aus dem Gemäuer des Schlosses wuchsen und den ganzen Turm emporrankten, bis zur Brustwehr hinauf. Plötzlich tauchten zwei winzige smaragdgrüne Kolibris auf, schienen in der Luft zu stehen und saugten Nektar aus den röhrenförmigen Blütenkelchen.
    »Wie haben sie den weiten Weg in den Norden zurückgelegt?«, flüsterte Nell. Allein bei dem Anblick der Kolibris – die nicht größer als Libellen waren – wurden ihre Knie weich. Sie wankte ein wenig hin und her, dachte daran, was diese winzigen Vögel alles durchmachen mussten, um an den roten Nektar zu gelangen.
    »Sie fliegen um die halbe Welt«, erklärte Stevie. »Sie sind kräftig und zielstrebig.«
    »Sie sehen so klein aus.« Hier oben wehte ein kräftiger Wind, und sie hatte Angst, gegen die Steinwände des Schlosses gedrückt zu werden. »Was ist, wenn sie in einen Sturm geraten? Müssen sie dann sterben?«
    »Keine Bange, ihnen kann

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