Wege im Sand
Lichen«, sagte Stevie.
»Jack und Nell, richtig? Bitte nicht so förmlich, sagt einfach Aida zu mir und du. Wie wäre es mit einer Kleinigkeit zu Mittag?«
»Wir haben am Paradise angehalten und bereits gegessen.« Stevie reichte ihr die braune Tüte.
»Stevie hat dir eine Hummerrolle mitgebracht!«, sagte Nell.
»Sie ist die liebste, beste Nichte, die man sich als Tante nur wünschen kann«, meinte Aida. »Moment, ich lege sie nur in den Kühlschrank, für später.«
»Tante Aida, was war denn das, was da an Doreens Ringfinger funkelte?«, fragte Stevie, als Aida aus der Tür ihres Hauses trat.
»Ein Wunder – wirklich und wahrhaftig! Henry hat ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie hat Ja gesagt. Die beiden sind endlich verlobt!«, sagte Aida herrisch, aber liebevoll, mit Tränen in den Augen. Sie legte genau den Tonfall an den Tag, den Jack von einer Schlossherrin erwartete, doch gepaart mit so viel Gefühl und Liebe, dass sie ihm auf Anhieb sympathisch war.
»Aha, deshalb hat er also auf ihre Hand gezeigt«, sagte Stevie.
»Ja … ich habe ihm den Verlobungsring geschenkt, den er ihr angesteckt hat, es war mein eigener.«
»Oh, Tante Aida.« Stevie umarmte sie. Jack beobachtete den Augenblick der Nähe zwischen Tante und Nichte; er erinnerte sich, was Stevie über den Geist ihres Onkels gesagt hatte, und spürte, dass Aidas Ring kostbarer war als sein irdischer Wert.
Aida hielt Stevies Ansturm stand, dann trat sie einen Schritt zurück. Ihr Augen-Make-up war verschmiert. Stevie wischte es von ihrer Wange. Der Gedanke an ihre lebenslange Beziehung, der Gedanke an Maddie und Nell, versetzte Jack einen Stich. Aida bestätigte mit einem Nicken, dass mit ihr alles in Ordnung war, und lachte leise.
»Jack und Nell, ihr müsst mich für eine verrückte alte Frau halten. Ich werde es euch erklären – Henry ist mein Stiefsohn, ehemals bei der US -Navy und seit kurzem im Ruhestand. Ich liebe ihn über alle Maßen, genauso, als wäre er mein leiblicher Sohn. Ein brillanter Offizier und Gentleman, aber leider ein absoluter Schwachkopf in Liebesdingen. Er war lange mit einer ganz reizenden Frau liiert – Doreen –, und er verließ sie …«
»Warum?«, fragte Nell.
»Er segelte davon. Wie alle Seeleute. Sie laufen einen Hafen an und gehen eine Zeit lang vor Anker, bevor sie wieder abdampfen. Henry bildete sich ein, Doreen würde immer für ihn da sein, auf ihn warten. Das tat sie auch – bis er in den Ruhestand ging. Er dachte, es würde so weitergehen wie bisher – er würde nach Newport fahren, wenn er Lust hatte, und mit offenen Armen empfangen werden. Sie zu heiraten war nicht geplant, wohlgemerkt. Er wollte kommen und gehen, wie es ihm passte.«
Jack hörte aufmerksam zu. Aidas Worte trafen ihn, völlig unverhofft. Plötzlich dachte er an seinen Pass, die Flugscheine und die Broschüren über die firmeneigenen Wohnungen in Inverness, die Schottenkaro-Stoffe und Dudelsäcke. Auch er suchte das Weite, was sonst. Lief davon, vor der schmerzvollen Vergangenheit, aber auch vor den aufkeimenden Gefühlen für Stevie. Er war keinen Deut besser als Henry.
»Sie gab ihm den Laufpass«, fuhr Aida fort. »Was meine uneingeschränkte Zustimmung fand. Zugegeben, die Ehe ist nicht für jedermann das A und O. Und alles andere als ein Allheilmittel. Aber sobald man weiß, dass man zusammengehört – was Henry im Hinblick auf Doreen schon vor gut zehn Besuchen in ihrem Hafen gemerkt haben muss –, ist man es sich selbst und dem Partner schuldig, die Beziehung zu legalisieren.«
»Die Frage, wann man heiraten oder es lassen sollte, kann einen Menschen zu Fall bringen«, sagte Stevie leise. Jack blickte sie an und sah, dass ihre Augen einen abwesenden, tragischen Ausdruck angenommen hatten.
»Lulu!«, rief Henry und stapfte den Hügel hinauf, Hand in Hand mit Doreen. Es folgten Umarmungen und Glückwünsche von allen Seiten, Stevie bewunderte den Ring, und dann stellten sich Jack und Nell vor.
»Die berühmte Nell«, sagte Henry.
»Ich bin berühmt?«, strahlte sie.
»Aber ja. Stevie hält viel von dir. Von dir und deinem Vater.« Er blickte Jack herausfordernd an – als hätte er ihm soeben den Fehdehandschuh vor die Füße geworfen.
»Sie hat Ihnen von mir erzählt?«, fragte Nell entzückt.
»Ach du meine Güte!«, sagte Aida. »Sie redet nur noch von dir. Wie mutig es von dir war, den Hügel zu ihrem Haus hinaufzusteigen, vorbei an diesem grässlichen Schild …«
»Betreten verboten!«
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