Wege zu einem humanen, selbstbestimmten Sterben
Ohne
Flüssigkeitszufuhr können die Nieren nach etwa einer Woche kaum Urin
produzieren und deshalb die Ausscheidungsprodukte des Stoffwechsels nicht mehr
aus dem Blut spülen. Einige Patienten fühlen sich nach einer Woche ohne
Flüssigkeit wie benebelt, weil ihre Nieren keinen Harnstoff mehr ausscheiden
können. Sie bleiben jedoch ansprechbar, so dass kürzere Gespräche mit ihnen
weiterhin möglich sind. Dieser Zustand eines getrübten Bewusstseins wird meist
nicht als unangenehm empfunden. Bis zu 24 Stunden vor dem Tode erlebt der
Sterbende nicht selten klare Momente, in denen er die Nächsten erkennt und
Kontakte erfährt, wie schwach er auch sein mag. Am Ende kann das Herz nicht
mehr regelmäßig schlagen, und er stirbt im Schlaf an Herzstillstand.
2.2 Varianten des Verlaufs bei unterschiedlichen Gruppen
Im Englischen, z. B. in Oregon
(USA), wird der Vorgang des freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit
als ‚voluntary refusal of food and fluid’ (VRFF) bezeichnet. Wir sprechen von
freiwilligem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (fvnf). Bei Krebskranken, die sich bereits im Stadium der
Metastasenbildung befinden, und bei Demenzkranken kommt es häufig vor, dass
Hunger- und Durstgefühle spontan abnehmen, so dass sie ohne große
Willensanstrengung zuletzt fast gar nichts mehr zu sich nehmen. Diese Patienten
haben nicht den Wunsch, durch Verzicht auf Flüssigkeit schneller zu
sterben. Bei ihnen ist die eigentliche Todesursache die Krankheit und nicht die
Austrocknung.
Der strikte Verzicht auf
Nahrung — so wie wir ihn hier thematisieren — ist nicht mit der
Nahrungsverweigerung von Hungerstreikenden oder Magersüchtigen vergleichbar.
Diese haben noch ein ganzes Leben vor sich, sie fasten aus politischen Gründen
oder unter Einfluss einer psychischen Krankheit. Sie sterben meist nach einem
langen Leidensweg, der auch mit guter Mundpflege kaum zu erleichtern gewesen
wäre.
Bei einigen Menschen, die
bewusst auf Nahrung und Flüssigkeit verzichten, um eher zu sterben, haben Ärzte
sofort Mittel verschrieben, die den Patienten bis zum Tode schlafen lassen. In
diesen Fällen ähnelt der Ablauf der ‚palliativen oder terminalen Sedierung’.
Dabei wird ein Patient mit einem unheilbaren Leiden durch einen Arzt mit
entsprechenden Medikamenten beruhigt und zum Einschlafen gebracht; es wird
keine Flüssigkeit mehr verabreicht, bis der Tod eintritt. Verzicht auf Nahrung
und Flüssigkeit braucht jedoch nicht mit Leiden einherzugehen, wenn Mundpflege
und Schmerzbekämpfung richtig angewandt werden. Deshalb ist der Verzicht auf
Flüssigkeit, um das Sterben zu beschleunigen, kein hinreichender Grund für
einen Arzt, zu palliativer Sedierung überzugehen.
In einigen Religionen ist der
‚Abschied von Speise und Trank’, der dem Sterben vorausgeht, nicht unbekannt.
Beim Jainismus in Indien bedeutet das zu Tode Fasten und Dürsten einen Sieg des
spirituellen Selbst über den Körper und ist hoch angesehen. 1 Es gibt Beschreibungen von Sterbehäusern in
Benares (Indien), wo alte Menschen, die kurz g zuvor aufgehört hatten zu essen
und zu trinken, weil sie glaubten, ihre Zeit sei gekommen, zusammen mit ihrer
Familie Einlass erhielten, um gemeinsam Abschied zu nehmen. 10 Für sie ist der Verzicht auf Essen und Trinken
eine kontrollierte Handlung, um Abschied vom Leben zu nehmen.
In England geht die „Natürlicher-Tod-Bewegung”
(Natural Death Movement) davon aus, dass der Verzicht auf Essen und Trinken
Beihilfe zur Selbsttötung durch Ärzte überflüssig macht. Diese Einschätzung
gibt es manchmal auch in den USA. 11 Aber nicht immer kann Verzicht auf Nahrung und
Flüssigkeit ärztliche Tötung auf Verlangen ersetzen. Wenn schwer erkrankte
Patienten beschließen, die letzten Tage oder Wochen nicht mehr erleben zu
wollen, aber körperlich nicht mehr in der Lage sind, ihr Leben selbst zu
beenden, ist die ärztliche Unterstützung beim Sterben in Würde unersetzlich. In
der Schweiz, in Oregon (USA), in den Niederlanden und in Belgien ist in diesem
Falle ärztliche Tötung auf Verlangen innerhalb gesetzlicher Regelungen erlaubt.
In Ländern, in denen dies gesetzlich verboten ist, setzen einfühlsame Ärzte
stattdessen terminale Sedierung ein. Obwohl es strafbar ist, sind manche Ärzte
dazu bereit, Beihilfe zur Selbsttötung zu leisten oder sogar Tötung auf
Verlangen zu gewähren (unter Verwendung von Medikamenten, die im Kapitel 5
besprochen werden), ohne darüber mit Kollegen zu sprechen. 12
Im
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