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Wehe wenn der Wind weht

Wehe wenn der Wind weht

Titel: Wehe wenn der Wind weht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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Aber das werde ich lernen. Und deshalb brauche ich im Augenblick etwas Hilfe, und ich könnte deine Erfahrung, wie man mit Patienten umgeht, gut brauchen. Einverstanden? «
    »Sicher.« Plötzlich wollte er etwas zu Edna Amber sagen, etwas, das sie in ihrer Niederlage besänftigte. Doch als er sie ansah, war ihrem Gesicht nicht anzumerken, daß sie besiegt war. Eine Sekunde lang begegnete sein Blick dem der alten Frau, aber er wich dem wilden Blick schnell aus. Er folgte Diana aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Einen Augenblick darauf war ein Krachen zu hören, als Edna Amber ihre Wut an einer Kristallvase ausließ. Dianas einzige Reaktion auf das Klirren des Glases war, daß sie ihre Kiefermuskeln anspannte.

6
    edna amber erwachte pünktlich um fünf Uhr morgens, so wie seit fünfzig Jahren an jedem Morgen. Normalerweise hätte sie sich hingesetzt und die nächste Stunde mit Lesen verbracht, aber an diesem Morgen stand sie sofort auf und eilte geschäftig die Stufen zum Obergeschoß hoch.
    Sie blieb vor der Kinderstube stehen, lauschte, schloß dann die Tür auf und betrat lautlos das Zimmer. Christie lag schlafend auf dem großen Bett, die Arme in die Seiten gestemmt, und das Haar verbarg halb ihr Gesicht. Edna stand über das Bett gebeugt und blickte in das friedliche Gesicht. Die Vergangenheit war zurückgekommen, um sie zu verfolgen, und sie hatte plötzlich Angst.
    Es fiel ihr schwer, zu glauben, daß dieses winzige Kind die Macht hatte, sie zu zerstören, und doch wußte sie, daß das die Wahrheit war. Ein Drang erfaßte sie, der Drang, ihren Stock zu heben und ihn in das schlafende Gesicht zu schlagen, um diese blauen Augen für immer wegzufegen, die sie so sehr an Diana erinnerten, als sie im gleichen Alter gewesen war. Aber sie riß sich zusammen. Das Kind hatte schließlich nichts getan. Es war Diana, der sie den Vorwurf machen mußte. Es war Diana, die darauf bestand, daß man dieses Kind in die kleine Welt brachte, die sie so sorgfältig für sie errichtet hatte. Doch am Ende würde es das Kind sein, das leiden mußte. Sie wußte, daß das Kind so oder so ihr Haus verlassen würde.
    Edna spannte ihre Lippen entschlossen, wandte sich von dem schlafenden Kind ab und kehrte in ihr Zimmer zurück. Eine Stunde später, als Diana ihr eine Kanne Kaffee brachte, saß Edna aufrecht in ihrem Bett, ein Buch geöffnet auf dem Schoß. Sie legte das Buch beiseite und lächelte ihre Tochter an.
    »Ich nehme an, ich sollte mich für die Vase entschuldigen«, sagte sie. Diana schaute sie wachsam an. »Oh, nur keine Sorge - das werde ich nicht«, fuhr die alte Frau fort. »Ich denke, ich habe längst vergessen, wie man das macht, wenn ich's je gewußt haben sollte. Aber ich will mit dir nicht streiten, Diana, das habe ich nie getan.«
    »Dann laß uns nicht streiten«, entgegnete Diana.
    »Du weißt ebensogut wie ich«, fuhr Edna fort, als ob Diana nichts gesagt hätte, »daß ich dieses Kind nicht hierlassen kann. Das weißt du doch, oder?«
    Diana fühlte sich plötzlich müde. Es würde wieder losgehen und den ganzen Tag währen. Und den nächsten Tag, und den übernächsten. Wie lange? Bis sie nachgab? Aber sie hatte ihrer Mutter immer nachgegeben. Dieses Mal würde sie das nicht.
    »Du kannst sie mir nicht wegnehmen, Mutter. Elliot hat sie mir gegeben, und sie gehört mir.«
    »Wenn er dich gekannt hätte, hätte er dieses Testament nicht geschrieben. Das weißt du.«
    Diana spürte, wie Panik in ihr aufstieg. Mit ihr war alles in Ordnung - alles. Wollte ihre Mutter denn die Vergangenheit nie ruhen lassen?
    »Das war vor Jahren, Mutter. Es ist vorbei.«
    »Nichts ist jemals vorbei«, erwiderte Edna. »Die Vergangenheit ist alles, was ist, Diana. Gleich, was du tust oder was du vorgibst, die Vergangenheit ist da. Du kannst sie nicht ignorieren.«
    » Du kannst sie nicht ignorieren, willst du sagen!« Die Worte platzten wie ein Sturzbach aus ihr heraus. »Du willst mich nicht vergessen lassen, du willst mich nicht leben lassen, du willst mich nicht ...« Sie suchte nach den richtigen Worten und fand sie dann. Ihre Stimme, die einen Augenblick zuvor noch ganz erregt gewesen war, war plötzlich ruhig. »Du willst mich nicht erwachsen werden lassen, Mutter. Du willst, daß ich dein kleines Mädchen bin - bis zu dem Tag, an dem du stirbst. Aber das ist Vergangenheit, Mutter - deine kostbare Vergangenheit. Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Ich bin seit vierzig Jahren kein kleines Mädchen mehr. Ich bin eine

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