Weihnachten mit Mama
zumindest gab sie das vor. Mittlerweile gab es keine Instrumente mehr im Salon, das Klavier war in eines der Gästezimmer verbannt worden. Hausmusik war schon lange kein Thema mehr. Aber auch nicht das behelfsmäßige Abspielen einer CD mit Weihnachtsmusik. Nein, bei den Siebenschöns wurde noch selbst gesungen. Wenn auch nicht schön, schon gar nicht siebenschön.
»O Tannenbaum, o Tannenbaum …«
»Ihr Kinderlein, kommet …«
»O, du fröhliche …«
Und dann, die heimliche Hymne des Weihnachtsfestes:
»Stille Nacht, heilige Nacht … «,mit aller Inbrunst, derer man fähig ist.
Diese vier Lieder mussten es unbedingt sein, sie gehörten sozusagen zum Standardrepertoire. Dann durfte sich – so war es zumindest früher – jeder noch ein weiteres Lied wünschen. Also kamen auch »Alle Jahre wieder« sowie »In dulci jubilo« und »Morgen, Kinder, wird’s was geben«zum Einsatz.
Diesmal aber war die Wunschliste naturgemäß eher kurz. Vier Pflicht- und vierzehn Kürlieder, das wäre dann doch des Guten zu viel gewesen; es hätte noch das Wunschkonzert im Radio übertroffen. Nur Mama durfte sich an ihrem Ehrentag ein fünftes Lied wünschen – und es war »Schneeflöckchen, Weißröckchen« , eher ein Winter- als ein Weihnachtslied. Aber sie liebte es, weil es so fröhlich war …
»So viele Sänger … das ist ja schon ein richtiger Chor … Wir brauchen einen Dirigenten«, sagte Mama.
»Ja, einen Chorleiter.«
»Papa?« Alle Augen richteten sich auf meinen Vater.
»Nein, nein«, wehrte der ab. »Ich hab gerade die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Da muss jetzt mal ein anderer ran.«
»Aber wer, Fritz?«, fragte Mama.
»Ich hab da schon eine Idee … Eigentlich kommt nur Charlotte infrage.«
»Charlotte?« Mamas Stimme bekam ein irritiertes Tremolo.
»Ja, natürlich Charlotte. Schließlich ist sie ausgebildete Pianistin. Und Musiklehrerin. Sie ist perfekt für diese Rolle.«
Charlottes blasses Gesicht überzog sich mit zarter Röte. Das fand sie nun doch ziemlich nobel.
»Wenn du meinst«, zierte sie sich. »Wenn ihr alle meint …«
»Natürlich meinen wir alle«, rief Tina erleichtert. »Das musst du machen … wer sonst?«
Also stellte sich Charlotte vor dem Chor auf und dirigierte ihn mit knappen Handbewegungen. Und ich muss zugeben, dass die Einsätze einigermaßen präzise klappten, besser sicherlich als ohne Chorleiterin.
Alle hatten ein hektografiertes Liederbuch in der Hand. Schließlich konnte man heutzutage von niemandem mehr profunde und verlässliche Textkenntnis erwarten, manchmal nicht einmal die der ersten Strophe. So aber konnten alle den Text singen … und zwar sämtliche Strophen!
Was soll ich über den Gesang dieses zusammengewürfelten Chors sagen? Man hätte Dissonanz erwarten können, doch – o Wunder – es klang unter Charlottes Leitung gar nicht mal so übel, und was an Raffinesse und Übung fehlte, wurde durch Begeisterung und Enthusiasmus wettgemacht. Diese Familie sang für ihr Leben gern – das war deutlich zu spüren. Und es war reiner Wohlklang, zumindest in meinen Ohren, was die Stimmen zustande brachten: der volltönende Bariton – mein Vater –, der Mezzosopran – meine Mutter –, die Sopranos – Karin und Charlotte –, die Altstimmen – Laura, Tina und Julie –, die Tenöre – Robert, Max und ich –, der Bass – Bernhard –, die rührend brüchige Stimme Omas und die hellen Stimmen der Zwillinge. Dorle, das wusste ich, bewegte nur die Lippen. Sie hatte als Einzige keinerlei inneren Zugang zum weihnachtlichen Liedgut. Vielleicht schämte sie sich dessen auch. Francis Fairlie machte sich derweil diskret in der Küche zu schaffen.
»Schneeflöckchen, Weißröckchen,
komm zu uns ins Tal.
Dann bau’n wir den Schneemann
und werfen den Ball.«
Es war geschafft!
Und dann kam sie endlich – die Bescherung! Jules und Jim gerieten außer sich vor Erwartungsekstase. Sie hüpften durch die Bude, als gelte es, die letzten bösen Geister zu vertreiben, die sie so lange von diesem Höhepunkt des Heiligabends ferngehalten hatten. Und sie bekamen ihre Geschenke – die ihrer Großeltern und die ihrer Eltern – natürlich als Erste.
Ich muss gestehen, dass mich eine leichte Beklemmung befiel. Schenken, so einfach es klingt, ist so einfach nicht. Da kann man viel verkehrt machen, da kann viel passieren. Und warum sollte gerade bei diesem heiklen Unterfangen in dieser heiklen Familie alles reibungslos ablaufen? Die Wahrscheinlichkeit sprach nicht gerade
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