Weihnachtsengel gibt es doch
der Tradition abwich, die Mrs Bickham begründet hatte, denn bisher war die Anzahl der Mitspieler jedes Jahr streng begrenzt gewesen.
„Meinen Sie das wirklich?“, fragte Eddie, nachdem sie das Mikrofon wieder ausgeschaltet hatte. „Sie wollen wirklich jeden teilnehmen lassen?“
„Wenn ich es nicht meinen würde, hätte ich es nicht gesagt.“
Das Vorsprechen fing mit den Jüngsten an, die in Dreiergruppen auf die Bühne traten. Maureen dachte, dass das weniger einschüchternd wäre als ein Soloauftritt. Sie kannte die meisten Kinder aus der Bücherei. Andersherum galt das allerdings nicht. Kinder erkannten sie in anderer Umgebung meistens nicht. Wenn sie hinter ihrem langen, glänzenden Eichentresen in der Bücherei stand oder zur Vorlesestunde in dem großen Schaukelstuhl saß, ja. Aber im Supermarkt oder sonst wo in der Stadt eher nicht.
Sie verbrachte ein paar Minuten damit, die Kleinen zu organisieren und in Reihen hinter der Bühne aufzustellen. Dazu bat sie Mrs Andrea Hubbell, eine Mutter, ihr zur Hand zu gehen. „Sie können so gut mit Kindern umgehen“, sagte Mrs Hubbell. „Wollen Sie selber auch mal welche haben?“
Maureen lachte, um ihre Reaktion auf diese unverfrorene Frage zu verbergen. Die Menschen neigten dazu, ungebundenen, alleinstehenden Frauen diese Frage zu stellen – als wenn ihr Alter von neunundzwanzig sie zu einer Person des öffentlichen Lebens machte. Sie überlegte, die Frage zu ignorieren, doch das erschien ihr zu unhöflich. Da sie aus einer großen, sich nahestehenden Familie stammte, war es nur natürlich, dass man annahm, sie würde ebenfalls jeden MomentBabys in die Welt setzen.
„Jedes Kind, das durch die Türen der Bücherei kommt, ist für einen kurzen Moment meins“, sagte sie – ihre Standardantwort auf diese viel zu häufig gestellte Frage. „Das ist das Beste daran, Bibliothekarin zu sein.“
„Kinder ohne Verpflichtung“, merkte Eddie an. „Man genießt die süßen Seiten, ohne sich um die stressigen kümmern zu müs sen.“
„Sehr lustig.“ Maureen war überrascht, dass er ihrer Unterhaltung zugehört hatte. Warum wurden alleinstehende Männer nie durchlöchert, wann sie endlich eine Familie gründen wollten? Das war doch pure Doppelmoral. Alle Menschen sollten zu gleichen Teilen von ihren Mitmenschen genervt werden. Sie klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen. „Wir können dann anfangen.“
Ray spielte die vertrauten Eröffnungsakkorde von „Away in a Manger“, dem allseits beliebten Weihnachtslied.
Die ersten drei Kinder, Emily, Ginger und Darla, standen Schulter an Schulter nebeneinander und sahen auf der leeren Bühne sehr klein aus. Maureen schenkte ihnen ein aufmunterndes Lächeln.
„Okay, Mädchen“, sagte sie. „Ihr seid dran.“ Sie nickte Ray zu.
Gemäß ihrem Zeitplan sollte das jetzt drei Minuten dauern. Die Kinder standen jedoch einfach nur mit kalkweißen Gesichtern und wie eingefroren da.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Maureen.
Keine Antwort. Die Mädchen schauten einander an, als noch einmal die Eröffnungssequenz ertönte. Von der Bühne drang kein Laut. Das mittlere Mädchen, Emily McDaniel, beugte sich vor und flüsterte einem anderen Mädchen etwas zu.
„Stimmt etwas nicht?“, wollte Maureen wissen.
Emily huschte von der Bühne. Sie stellte sich auf Zehenspitzen, legte ihre Hände um Maureens Ohr und flüsterte: „Darla muss mal.“
„Oh.“ Maureen schaute Darla an. „Wirklich?“
Mit weit aufgerissenen Augen schüttelte Ginger den Kopf. „Nicht mehr.“
„Oh, Mann, sie hat sich in die Hose gemacht“, rief ein kleiner Junge.
„Total in die Hose gemacht“, fiel ein zweites Kind ein.
Darla brach in Tränen aus. Die anderen beiden Mädchen leisteten ihr Gesellschaft und weinten aus Sympathie mit. Chaos brach aus – einige Kinder weinten, andere lachten, wieder andere jagten einander. Darlas Mutter säuberte ihr Kind und wischte die Pfütze auf der Bühne weg, auf der – Maureen konnte den Gedanken einfach nicht unterdrücken – am Sonntag die Predigt gehalten wurde. Als Chets Kamera über die Szene schwenkte, war Maureen kurz davor, sich den weinenden Kindern anzuschließen.
„Was kommt als Nächstes?“, flüsterte sie Eddie zu. „Ohnmachtsanfälle? Diese Kinder sind zu Tode verängstigt. Bin ich so Furcht einflößend?“ Sie betrachtete sein Gesicht: „Darauf brauchen Sie nicht zu antworten.“
„Ich wollte gerade von meinem Recht zur Aussageverweigerung
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