Weihnachtsengel gibt es doch
jährigen in Santas Schoß und trat einen Schritt zurück. Sie hielt den Atem an und hoffte das Beste. Das Setting war dieses Jahr ganz besonders bezaubernd. Eine Gartenlaube, die in ein Lebkuchenhaus verwandelt worden war, mit einem Weihnachtsmann, der auf seinem geflügelten Thron saß, den Kindern sein berühmtes „Ho Ho Ho“ schenkte und ihnen das Blaue vom Himmel versprach. Sie sprach das kleine Gebet, das Eltern von Kleinkindern überall auf der Welt in einem Augenblick wie diesem ausstießen: Bitte, lass ihn lange genug still sitzen, bis das Foto gemacht ist.
Beeil dich doch, drängte sie schweigend die Assistentin, die wie eine Elfe gekleidet war. Mach das Foto. Jetzt. Beim Fotografieren hing alles vom richtigen Timing ab.
Die Elfe hielt ein Quietschetierchen in der einen Hand und den Auslöser für die Kamera in der anderen. „Guck auf den Vogel“, sagte sie mit singender Stimme.
Charlies Augen, normalerweise zwei kleine smaragdfarbene Knöpfe voller Fröhlichkeit, weiteten sich panisch. Er sah von dem rot gekleideten, bärtigen Fremden, auf dessen Knie er saß, zu der glupschäugigen Elfe mit dem Quietschetier. Dann sog er scharf die Luft ein, und es folgte ein Moment perfekter, absoluter Stille.
Mach schon, mach schon, mach schon, rief Daisy innerlich.
Die Elfe drückte den Auslöser eine Millisekunde zu spät. In dem Moment hatte sich Charlies Gesicht schon zu einer Maske kläglicher Verzweiflung verzogen. Auf seinem kleinen T-Shirt stand „Der Weihnachtsmann liebt mich“, aber sein Gesichtsausdruck sagte: „Wer ist dieser Freak?“ Er stieß ein langes, gequältes Heulen aus, das vermutlich noch von dem Menschen ganz am Ende der draußen vor demLebkuchenhaus wartenden Schlange gehört werden konnte.
Daisy eilte zu ihm und rettete ihn. Er klammerte sich an sie, ein schluchzendes, zitterndes Bündel. Sein nasses Gesicht drückte sich gegen ihre Brust, die kleinen Fäuste gruben sich in ihren Pullover. Er weigerte sich, sie auch nur lange genug loszulassen, dass sie ihm seinen Parka anziehen konnte, also legte sie ihn ihm nur um die Schultern. „Du holst dir noch ’ne Lungenentzündung“, murmelte sie.
„Sündung“, wiederholte er mit einem tragischen Schnüffeln.
Sie bahnte sich ihren Weg zum Ausgang, der so gelegen war, dass sie mit ihrem gepeinigten Kind an den anderen wartenden Kindern und ihren Eltern vorbeigehen musste. Auf den ersten Blick schienen es alles wohlerzogene, ruhige Kinder zu sein, die von ihren Fußballmüttern und Pendlervätern begleitet wurden. Daisy konnte sich vorstellen, welche Kommentare den Erwachsenen zu ihrem Erziehungsstil durch den Kopf gingen. Bestimmt hatte sie ihrem Kleinkind zu viel Zucker gegeben oder seinen Mittagsschlaf ausfallen lassen. (Okay, sie war schuldig in beiden Punkten, aber trotzdem.) Das war das Problem mit Teenagermüttern, würden sie vermutlich sagen. Sie sind einfach noch nicht bereit, Eltern zu sein.
Daisy war zwar kein Teenager mehr, sah aber immer noch so aus. Vor allem mit ihrer alten Jeans und dem Snowboardparka, die sie noch trug, weil sie keine Zeit gehabt hatte, sich umzuziehen, bevor sie nach der Schule Charlie vom Babysitter abgeholt hatte. Sie war mit achtzehn schwanger und mit neunzehn Mutter geworden. Innerhalb kürzester Zeit war aus der Schülerin an einer Privatschule in Manhattan eine alleinerziehende Mutter in einer Kleinstadt geworden, in die sie gezogen war, um näher bei ihrer Familie zu sein. Jetzt war Charlie zweieinhalb, und sie ging auf die einundzwanzig zu. Das klang zwar jung, aber manchmal gab es Zeiten, wo siedas Leben als Alleinerziehende sich wesentlich älter fühlen ließ.
Sie warf einen Blick auf die Frau in den hochhackigen Stiefeln und der schicken Jacke im Hahnentrittmuster, die sich gerade vorbeugte, um noch ein letztes Mal Hand an die Schleife im seidigen Haar ihrer Tochter zu legen. Die beiden sahen aus, als wären sie direkt den Seiten einer Modezeitschrift entstiegen. Wie machen die das nur? fragte sich Daisy. Wie schafften sie es, so ordentlich und ruhig auszusehen, anstatt von hier nach da zu hasten und immer irgendwas zu vergessen?
Tief durchatmen, befahl sie sich. Sie war reich gesegnet mit vielen Freunden und ihrer Familie, die sie alle unterstützten. Sie räumte ein, dass sie ein wenig zu kämpfen hatte, weil sie entschieden hatte, alleine zu leben. Auch wenn ihre Familie Geld hatte, besaß Daisy eine sehr unabhängige Ader und diesen Stolz, es alleine schaffen zu wollen. Charlie
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