Weihnachtsengel gibt es doch
nicht beleidigt. Er legte einfach seine Hand an ihre Wange und fuhr mit seinem Daumen zärtlich über ihren Wangenknochen. „Sicher“, sagte er undbeugte sich vor, um ihr einen federleichten Kuss auf die Stirn zu geben. „Das machen wir.“
Er trat in die Nacht hinaus und ging durch wirbelnde Schneeflocken zu seinem Auto. Sie stand an der Tür und schaute ihm nach, bis die Rücklichter seines Wagens verschwunden waren. Nach einem tiefen Seufzer berührte sie ihre Lippen mit dem Finger und fragte sich, wann ihr Leben so kompliziert geworden war.
10. KAPITEL
M aureen erwach te mit den schlimms ten „Was habe ich nur getan“-Kopfschmerzen ihres Lebens. Es war die Art Kopfschmerz, die – so stellte sie es sich zumindest vor – Frauen nach einer durchfeierten Nacht erlitten; vielleicht sogar nach wildem Sex mit jemandem, der ein wenig gefährlich war.
Natürlich hatte Maureen mit beiden Dingen keinerlei Erfahrungen. Aber sie hatte viele Bücher gelesen.
Ihr derzeitiger Kopfschmerz war der Entscheidung geschuldet, die sie am Abend zuvor getroffen hatte. Sie hatte sich von Eddie Haven überreden lassen, einem vollkommen Fremden die Rolle zu geben, die eigentlich Cecil Byrne gehören sollte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Gar nichts. Sie war von Jabez’ Vorstellung und Eddies schlichtem, aber überzeugendem Argument so gefangen genommen gewesen, dass sie einfach eingeknickt war. Das Fernsehteam hatte alles aufgenommen, und irgendwie hatte sie nicht anders gekonnt, als Jabez auszuwählen.
Schnell schlüpfte sie in ihre Klamotten. Es war immer noch ausreichend Zeit, diese Entscheidung rückgängig zu machen. Sicher hatte noch niemand die Liste gesehen. Sie könnte einfach die Namen austauschen. Nein, dachte sie und stellte Franklin und Eloise eine Schüssel mit Katzenfutter hin. Die Liste war in unlöschbarer, unerbittlicher Tinte geschrieben. Sie würde sie komplett neu machen müssen.
Die Luft strich kalt und klar über ihr Gesicht, als sie zum Auto ging und dann zur Kirche fuhr. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, die Geschwindigkeitsbegrenzung zu überschreiten, aber nein. Zu schnell zu fahren bedeutete oft, noch mehr Zeit zu benötigen, vor allem wenn die Straßen von Schnee und Eis glatt waren. Die Stadt erwachte gerade erst. Die erste Welle Pendler war auf dem Weg zum Bahnhof;eine Brigade Fitnessfanatiker joggte in hautengen Thermohosen, die Schaufenster von Bäckerei und Zeitschriftenladen waren schon hell erleuchtet. Es war interessant, was für ein Wust an Aktivitäten um diese frühe Stunde bereits im Gange war.
Nein, es war nicht interessant. Es war nervenaufreibend. Sie verstand diese ganzen Frühaufsteher nicht. Blieb denn niemand von ihnen bis spät in die Nacht auf, gefesselt von einem Roman, den sie einfach nicht aus der Hand legen konnten? Maureen erging das jeden Abend so. Um am nächsten Morgen aufzuwachen, brauchte sie zwei Wecker und drei Tassen Kaffee. Eines der Dinge, die ihr am Leben als Bibliothekarin so gefielen, war, dass sie die Bücherei nicht vor halb zehn öffnen musste, was sie eine sehr zivile Uhrzeit fand.
Um diese Tageszeit standen noch keine anderen Autos auf dem Kirchenparkplatz. Keine Spuren durchzogen den in der Nacht gefallenen Schnee. Erleichtert lief sie zur Haupttür und benutzte den Schlüssel, den man ihr anvertraut hatte. Trotzdem fühlte sie sich … hinterhältig. Beinahe heimtückisch. Als wenn sie etwas Falsches tat.
„Guten Morgen“, grüßte eine freundliche Stimme hinter ihr.
Maureen keuchte auf und wirbelte herum, wobei ihr der Schlüssel aus der Hand fiel. „Jabez. Du hast mich erschreckt.“
„Tut mir leid, das wollte ich nicht.“
„Was tust du um diese Uhrzeit hier?“
„Ich hatte gehofft, einen Blick auf die Liste werfen zu können“, sagte er. „Sie sagten, dass sie heute im Vorraum aushängen würde.“
„Ja“, hörte sie sich sagen. „Aber sie ist noch nicht endgültig …“ Ihre Stimme verebbte. Sie saß in der Klemme. Aufmerksam betrachtete sie Jabez’ ungewöhnliches Gesicht. Sogar im harten Morgenlicht sah er wunderschön und irgendwie exotisch aus. In ihrem Kopf konnte sie immer nochjeden einzelnen zauberhaften Ton hören, den er gesungen hatte, und tief in ihrem Inneren wusste sie, dass Eddie recht hatte. Dieser Junge war dazu geboren worden zu singen. Ihn das vor ganz Avalon tun zu lassen wäre ein unbezahlbares Geschenk an die Gemeinde.
Die Kopfschmerzen, die sich den ganzen Morgen über aufgebaut
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