Weihnachtsengel küsst man nicht
Plane, legte sie über sich und Lina und öffnete die Stalltür. Der Wind war so kalt und schneidend, dass er ihr den Atem nahm. Sie japste und hatte das Gefühl, wie ein Magnet Hunderte von winzigen Nadeln anzuziehen, die auf ihr Gesicht einpikten, bis es brannte. Die Kälte schnitt ihr in die Augen, sodass sie augenblicklich anfingen zu tränen. Sie schloss die Lider und ließ sich von Rudi führen, der gebückt ging, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten. Die wenigen Meter über den Hof kamen Lina vor wie eine Wanderung, und so kalt ihr äußerlich war, so sehr kochte sie innen. Das konnte alles nicht wahr sein. Rudi schloss umständlich die Tür auf und ließ Lina vor sich ins Haus schlüpfen. Da stand sie tropfnass und wütend und funkelte ihn an. »Ziehen Sie sich aus«, sagte Rudi.
Lina öffnete und schloss den Mund wie ein Karpfen auf dem Trockenen. »Wie bitte?« Rudi
blieb dabei. »Ziehen Sie sich aus. Oben im Bad. Duschen Sie heiß, Handtücher sind auf der Heizung. Da steht auch ein Trockner für Ihre Sachen. Ich suche Ihnen etwas raus und lege es vor die Tür. Na los, machen Sie hinne.« Lina trabte schon völlig verdattert die ersten Stufen zum oberen Stockwerk hinauf, da drehte sie sich noch einmal um. »Können Sie mir mal sagen«, begann sie, »was das hier eigentlich alles soll? Sie schicken mein Date weg. Sie lügen mich an mit dem Geschenk. Sie locken mich hier raus und lassen zu, dass mich Ihr exhibitionistischer Freund zu Tode erschreckt. Was soll das eigentlich?« Rudi zuckte mit den Schultern. Es dauerte ein Weile. Dann sagte er: »Ich mag Sie halt.«
13
DEZEMBER
Lina kam, in einen dicken weißen Frotteebademantel gewickelt, die Treppe herunter. Rudi lachte, als er sie sah. »Du siehst aus wie ein Schneemann«, sagte er, reichte ihr einen großen Becher Kakao und fügte noch hinzu: »Wenn man eine Frau mal im Bademantel gesehen hat, darf man sie duzen – hat meine Oma mir beigebracht.« Lina lächelte: »Scheint so, dass deine Oma ähnliche Weisheiten parat hatte wie meine. Meine hat immer gesagt, hätschel und pflege einen Mann wie ein Gewächs, wenn er aber zu wild wuchert, reiß ihm die Wurzeln aus oder bring ihn unter den Rasen und schütt Erde drauf.« »Jetzt weiß ich auch, woher du deinen Charme hast.« Rudi grinste. Sie setzten sich an den Küchentisch und sahen hinaus. Draußen
tobte der Schneesturm, als würde sich die Welt auf den Kopf stellen, die Flocken kamen von allen Seiten. Sie segelten von oben herab, stiegen von unten auf wie Funken und tobten dazwischen, kleine weiße Wirbelstürme, die jedem, der jetzt noch draußen war, völlig die Orientierung nehmen würden. Rudi schob Lina eine große Schale mit Keksen hin und gemeinsam futterten sie, als hätten sie sich abgesprochen, Sorte um Sorte. Erst die Zimtsterne, dann die Vanillekipferl, schließlich das Marmorgebäck und die Makronen. »Läuft dein Job gut?«, fragte Rudi, um etwas zu sagen. »So gut es eben laufen kann, wenn man als Litfaßsäule mit Bettlaken behangen unter einer Wurstkrippe stehen muss.« »Wolltest du immer Model werden?« »Ich schon, aber mein dicker Hintern nicht.« Rudi schaute ihr über seinen dampfenden Kakaobecher hinweg tief in die Augen: »Wenn man dich Plätzchen essen sieht, kann man dir kein Pfund verübeln.« Lina wurde rot, wickelte sich enger in seinen Bademantel und schlürfte, sodass sie eine weiße Sahnespitze auf der Nase hatte, als sie wieder aus ihrem Becher auftauchte.
»Hier im Dorf gibt es eine Geschichte«, fing Rudi an, »die wirklich wahr sein soll. Man erzählt sie im Advent den Kindern, aber die Erwachsenen erzählen sie sich auch. Also: Früher wohnte hier auf dem Hof ein Mann, der seine Frau so sehr liebte, dass er sie immerzu küssen und anknabbern musste.« »Sehr pädagogisch. Ist das eine ländliche Form der Aufklärung?« Rudi brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. »Die Frau backte ununterbrochen. Hefezöpfe, Plätzchen, Kuchen, Brot und vor allem Printen, und sie aß es auch immer alles auf. Und eines Tages merkte ihr Mann, als er ihren Nacken küsste, dass die Haut da dunkler war als sonst und dass sie süß schmeckte.« »Ich ahne es.« »Scht! Die Frau verwandelte sich schließlich in eine große, dunkle Printe, als sie wieder einmal am Herd stand und Mandeln für einen Kuchen pellte.« »Und ihr Mann?« »War furchtbar traurig und hat sie aus lauter Liebe aufgegessen.« Lina lachte. Gerade wollte sie ihm die Geschichte des entflogenen
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