Weihnachtszauber 01
ein tröstliches Trugbild für die Jungen und Unschuldigen. Seit jenem Winterabend vor zehn Jahren gehörte er weder zu den einen noch zu den anderen. Damals fand das angenehme Leben, das er bis dahin geführt hatte, ein jähes Ende.
Heute hatte ihn nach so langer Zeit ein Anwalt ausfindig gemacht, als er gerade das Kontor seines Lohnherrn nach einem weiteren erbärmlichen Tag anstrengender Arbeit verließ, die er für das erbärmliche Entgelt von vier Pfund und zehn Shilling im Quartal verrichtete. Kaum hatte er den Fuß vor die Tür gesetzt, da wurde er bereits von dem Mann angesprochen.
Als der Anwalt sich vorstellte, hoffte William einen Augenblick, Mr. Sherrod habe es endlich für recht befunden, sich an das Versprechen zu erinnern, das er ihm einst gegeben hatte: dass er würde heimkehren dürfen. Er würde die niedere Arbeit als Schreibkraft ebenso aufgeben können wie seine trostlose Existenz, die nur aus Entbehrungen und Erniedrigung bestand.
Doch nein. Wie sich herausstellte, war Adam Sherrod nicht plötzlich großzügig geworden. Er war gestorben.
Er hatte sich in seinem Testament allerdings an ihn erinnert – und ihm ganze zehn Pfund vermacht. Zehn Pfund. Obwohl er allein die Verantwortung dafür trägt, dass ich mein behagliches Leben verloren habe, meine Kindheit und am Ende auch meinen Vater, dachte William bitter. Zehn Pfund, obwohl er versprochen hatte, sich um ihn zu kümmern, sollte es sich als nötig erweisen. Und vor genau zehn Jahren –
wieder zur Weihnachtszeit – hatte es sich als nötig erwiesen, doch Mr. Sherrod hatte keinen Finger gerührt.
Zwar besaß er nicht wirklich einen Anspruch auf Mr. Sherrods Geld. Er erinnerte sich nur an dessen Versprechen.
Seine letzte Hoffnung hatte sich ein für alle Mal in Luft aufgelöst. Er würde nie wieder nach Leicester zurückkehren. Er würde nie die Fehler seines Vaters überwinden können. Heute war er endgültig dazu verdammt worden, den Rest seines Lebens in bitterer Armut zu verbringen. Es gab keine Rettung.
Warum hatte er sich dieser abwegigen Hoffnung auch hingegeben? Nur im Märchen ging alles immer gut aus, und ein armer Schlucker wurde König. Im wahren Leben konnte ein Mann sich glücklich schätzen, wenn er achtzehn Pfund im Jahr verdiente.
Deswegen war Weihnachten nur ein Fest für die ganz Jungen und Hoffnungsvollen.
Für blauäugige Engel wie Miss Lavinia Spencer, die niemals die hässlichen Seiten des Lebens erfahren würde, aber nichts für einen Mann, dessen großer Traum sich von einem Moment zum nächsten völlig zerschlagen hatte.
Sein zweiter großer Traum hatte ihn heute hierhergeführt.
Miss Spencer. Die liebliche, zierliche, lebhafte Miss Spencer mit ihren ausdrucksvollen Augen und dem süßen Lächeln. Sie errötete viel zu leicht, was er allerdings auch entzückend fand. Und Strähnen ihres zimtbraunen Haars lösten sich ständig aus der Frisur, doch selbst das ließ sie nicht unordentlich, sondern nur sehr natürlich und ungekünstelt wirken.
Wenn er auch nur einen Bruchteil jener versprochenen zehntausend Pfund erhalten hätte ... Nun, über dieses Thema konnte er in den vielen schlaflosen Nächten nachgrübeln, die ihm zweifellos bevorstanden. Denn nun würde er seine Sehnsucht nach leidenschaftlichen Nächten mit Miss Spencer aufgeben müssen.
William bemühte sich, das Bild zu verbannen, das dieser erregende Gedanke heraufbeschworen hatte – Miss Lavinia Spencer, die die Bänder ihres Umhangs löste, sodass er flatternd zu Boden fiel. So etwas durfte er sich nicht einmal vorstellen.
Nicht jetzt und ganz gewiss nicht hier. Doch es war nicht seine Entschlossenheit, die die Vision verschwinden ließ. Es waren die folgenden Worte.
„Vinny, du musst das verstehen.“ Miss Spencers Bruder klang seltsam erregt, sodass William erstaunt den Kopf hob.
Im Lauf des vergangenen Jahres hatte James Spencer sich immer seltener in der Leihbibliothek blicken lassen. Bis William schließlich missbilligend feststellen musste, dass Miss Spencer den Platz ihres Bruders ganz übernommen hatte. Sie war es, die die Besucher begrüßte und Lieferungen entgegennahm. James hingegen hatte am Ende nur noch durch Abwesenheit geglänzt.
„Es sollte bloß ein vorläufiges Darlehen sein. Er brauchte das Geld, um die Wache zu bezahlen und an seine Waren zu kommen, ohne dass seine Gläubiger es erfuhren“, schloss James in leicht verdrossenem Ton, als wäre er selbst nicht ganz überzeugt von dem, was er sagte.
„Um die Wache zu
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