Weihnachtszauber 01
ein zischendes Geräusch zuvor. William wandte sich ab.
Das Wasser im Kessel hatte zu kochen begonnen. William nahm ein Tuch und beschäftigte sich einige Minuten mit dem Kessel und der Teekanne.
Als er sich schließlich wieder zu Lavinia umdrehte, hielt er ihr eine Tasse hin.
„Hier“, sagte er. „Der Nektar der Armut – fünfmal aufgebrühte Teeblätter. Ich hoffe, das Wasser hat noch immer etwas Geschmack. Es gibt aber keinen Zucker. Es gibt nie Zucker.“
Lavinia griff nach der Tasse, und er nahm hastig die Hand fort, um sie nicht zu berühren.
„Du sprichst aber nicht wie ein armer Mann“, meinte Lavinia nachdenklich. „Und du liest auch nicht das, was man von einem armen, ungebildeten Mann erwarten würde. Die Philosophen Malthus und Adam Smith, Zeitschriften über Viehzucht und Landwirtschaft.“
Er schenkte sich ebenfalls eine Tasse Tee ein. „Als ich vierzehn war, ließ mein Vater, damals ein aufstrebender Händler, sich auf eine recht riskante Spekulation ein. Ein Freund hatte ihn dazu überredet. Er versprach, meine Ausbildung zu bezahlen und eine beachtliche Summe auf meinen Namen zu überschreiben, wenn die Investition fehlschlagen sollte.“
William hob die Tasse an den Mund, benetzte sich aber gerade nur die Lippen mit dem Tee. „Sie schlug fehl, leider sogar völlig. Mein Vater erschoss sich. Und sein Freund ...“, er betonte das letzte Wort höhnisch, „... war anscheinend der Ansicht, dass man sich an kein Versprechen zu halten brauchte, das man einem Selbstmörder gab. Von meinem geringen Erbe blieb nicht viel, und so verließ ich meine Heimat, um in London mein Glück zu versuchen.“
„Wo geschah das alles?“
„In Leicester. Mir ist immer noch ein wenig von dem ländlichen Akzent geblieben, obwohl ich versucht habe, ihn abzulegen. Wie du siehst, gehöre ich in Wirklichkeit zu den Geringsten der Geringen. Ich bin der Sohn eines Selbstmörders. Mein Gehalt beläuft sich auf ganze achtzehn Pfund im Jahr. Einst gehörte ich zu den unglückseligen Armen, die aber immerhin noch Würde und Ehrgefühl besaßen. Jetzt, da ich eine Frau in mein Bett genommen habe, obwohl ich wusste, dass ich sie nicht heiraten kann, darf ich nicht einmal mehr das behaupten. Selbst wenn ich das Geld hätte, dich zu meiner Gattin zu machen, glaube ich nicht, ich könnte die Dreistigkeit dazu aufbringen.“
Lavinia stand abrupt auf, um ihm den Unsinn seiner Worte klarzumachen, doch er stellte seine Tasse auf den Tisch und wich vor ihr zurück.
„Es wird bald hell“, sagte er. „Ich bringe dich besser heim.“ Damit ließ er sie stehen und verließ die Küche.
5. KAPITEL
William lief fast vor Lavinia davon, so schnell ging er den Flur hinunter. Er hatte ihr die Lage so deutlich gemacht, wie er es nur wagen konnte. Dabei war sie im Begriff gewesen, ihm zu widersprechen, er hatte es ihr angesehen. Ihre Worte wären eine zu große Versuchung für ihn gewesen. Und er war nicht sicher, ob er sich noch sehr viel länger hätte beherrschen können, während alles ihn danach drängte, Lavinia in die Arme zu nehmen. Er griff nach seinem Mantel, ging zur Tür und öffnete sie. Die Flucht war fast gelungen. Reglos blieb er stehen, bis Lavinia aus der Küche zu ihm kam.
Sofort trat er in das kühle Morgengrauen hinaus, und sie folgte ihm leise. William ertrug ihre Gegenwart nicht, zu schmerzlich erinnerte sie ihn an alles, was er niemals bekommen konnte. Aber so tief war er denn doch nicht gesunken, eine Frau allein in den Nebel hinauszuschicken. Am allerwenigsten Lavinia.
Norwich Court schien wie auf einer weißen Wolke zu schweben, so undurchdringlich war der Nebel. Er wand sich um das Gaslicht an der Ecke und strich dünnen Fingern gleich durch die knorrigen Äste der Bäume. Lavinia hielt sich dicht hinter William.
Nur wenige Zentimeter trennten sie voneinander, und doch schien sie nie ferner gewesen zu sein.
„Ich denke eigentlich“, sagte sie, „du solltest mich selbst entscheiden lassen, ob du wirklich ein Mann ohne Würde und Ehrgefühl bist.“
Er zog den Mantel fester um sich. „Ich möchte jetzt nicht darüber sprechen.“
„Nicht jetzt? Gut.“
Erstaunt und vielleicht sogar ein wenig enttäuscht nahm er die Leichtigkeit hin, mit der sie sich abweisen ließ. Stumm gingen sie weiter. Dann sprach sie ihn wieder an.
„Und wie ist es jetzt?“
William sah unverwandt nach vorn, um ihr so besser ausweichen zu können. Nur gab es an diesem frühen Morgen nicht viel zu sehen. In einer
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