Weihnachtszauber 01
Moment lang bekam William keine Luft und krümmte sich leicht zusammen vor Schmerz. Andererseits hatte er das und noch viel mehr verdient, also würde er sich nicht beschweren.
Als er wieder zu Atem kam, richtete er sich vorsichtig auf. „Behaupten Sie nicht, dass Sie Ihre Schwester beschützen“, wiederholte er ungerührt. „Sie überlassen doch alles ihr. Sie kümmert sich ganz allein um Sie und Ihren Vater und bekommt nichts als Gegenleistung.“
James sah ihn verwirrt an. „Wenn Sie so ein gemeiner Kerl sind, warum sagen Sie mir das alles?“
„Weil ich verdammt sein will, ehe ich zulasse, dass Lavinia wieder von einem gemeinen Schuft wie mir geküsst wird.“
Zu seinem Ärger sah der Junge ihn so durchdringend an wie seine Schwester. William überbekam das unangenehme Gefühl, seine unmögliche Leidenschaft für Lavinia sei ihm deutlich anzusehen. Doch es war ein unerfüllbarer Traum, also schüttelte er den Kopf. „Nein. Sehen Sie mich nicht so an. Ich kann mich nicht um sie kümmern, Sie Idiot, also werden Sie endlich erwachsen, und übernehmen Sie Ihre Pflichten.“
James hob stolz das Kinn. „Machen Sie sich keine Sorgen. Das werde ich.“
Die Schritte ihres Bruders auf der Treppe ließen Lavinia aufhorchen. Er hatte sie Hand in Hand mit einem fremden Mann gesehen und war William dann nach draußen gefolgt. Jetzt kam er zurück, und sie wusste noch immer keine Antworten auf die Fragen, die er ihr sicherlich stellen würde. Sie hatte heute nicht die Kraft, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Stattdessen beugte sie sich über die Zahlen im Kassabuch und begann zu rechnen.
Die Tür wurde geöffnet, und James trat ein. Er durchquerte das Zimmer und blieb hinter ihr stehen. Sie hörte ihn leise seufzen, tat aber trotzdem so, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Genau das würde sie tun. Sie würde vorgeben, zu sehr in ihre Arbeit vertieft zu sein.
„Vinny“, sagte er leise. „Ich finde es nicht richtig, dass immer du es bist, die sich über diesen Büchern abrackert. Wird es nicht Zeit, ich übernehme auch meinen Teil?“
Keine Anschuldigungen? Lavinia legte ihre Feder langsam nieder und wandte sich zu ihm um. Seine Miene war sehr ernst, jedoch nicht anklagend, sondern bedrückt. Ihr kleiner Bruder wollte Verantwortung übernehmen. Doch davor hatte sie ihn bewahren wollen.
„O James.“ Sie strich die Aufschläge an seiner feuchten Jacke notdürftig glatt. „Das ist sehr lieb von dir.“
„Ich bin nicht lieb. Es ist notwendig. Ich muss in der Lage sein, ohne dich zurechtzukommen.“
Lavinia seufzte leise. Wie oft hatte James ihr nicht schon angeboten – wenn auch auf seine unbeholfene Art –, ihr zu helfen? Und wie oft hatte sie es abgelehnt?
Unzählige Male.
„Schließlich“, fuhr er fort, „wirst du vielleicht einmal heiraten.“
„Ich werde nicht heiraten.“ Ihre Antwort kam zu schnell, der leichte Ton klang zu gezwungen. Immerhin hatte er sie mit William zusammen gesehen. Zwar hatte er sie nicht beim Küssen ertappt, aber sie hatten auf sehr vertrauliche Art Händchen gehalten. Wie sollte sie ihrem Bruder erklären, dass sie den Mann, mit dem sie so vertraut umging, nicht heiraten würde? Am besten wechselte sie das Thema.
Noch bevor sie das tun konnte, seufzte James wieder tief auf. „Trotzdem. Sollte ich nicht helfen?“
Was hatte William ihm gesagt? Lieber Gott, hatte er es James verraten? „Du hast recht“, antwortete sie behutsam. „Vielleicht kann ich dir eine Aufgabe geben – etwas Einfaches.“
Seine Miene wurde noch finsterer. „Man sollte meinen, du wärst froh, dich von der Arbeit hier zurückziehen zu können.“
Sich zurückziehen? Das war unmöglich. James konnte nicht mit den Gläubigern umgehen, er wusste nicht über den Buchbestand Bescheid und auch nicht, wo jeder Band stand. Wenn sie ihm die Bibliothek überließe, würde er ein Chaos anrichten.
Am Ende würden sie so große Verluste machen, dass sie alles verlieren könnten.
Doch James fuhr fort, als wüsste er genau, wovon er sprach: „Ich denke, ich werde ganz gut allein zurechtkommen. Immerhin bin ich schon fast sechzehn.“
„James. Ich kann dir nicht alles einfach so überlassen. Es gibt zu viele Dinge, die du nicht weißt.“
„Dann kannst du mir ja erklären, was ich tun muss.“
„Ich habe nicht die Zeit, dir alles zu erklären! Du würdest nicht daran denken, jeden Tag ein wenig Geld für das Weihnachtsessen zurückzulegen. Du würdest nicht mit dem Apotheker aushandeln, die
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