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Weil sie sich liebten (German Edition)

Weil sie sich liebten (German Edition)

Titel: Weil sie sich liebten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Aufgabe, anhand einer Passage, die sie sich aus Als
ich im Sterben lag heraussuchen sollten, eine These zur Erläuterung
entweder einer Figur oder eines Motivs des Romans zu entwickeln. Ich erinnere
mich, dass ich Rob anfangs immer wieder nach seiner Gliederung fragte, nach
seinen Gedanken über das Buch, nach irgendeiner Andeutung darüber, was ihm
vorschwebte. Es kam kaum eine Reaktion von ihm, und ich hatte zunehmend den Eindruck,
dass er das Buch überhaupt nicht gelesen hatte. Aber als der Termin näher
rückte, stürzte er sich plötzlich mit ungeheurem Eifer in die Arbeit, und viele
seiner Fragen in den letzten Tagen vor der Abgabe zeugten für meine Begriffe
von einer bemerkenswerten Einfühlsamkeit. Wenn Sie meine Meinung hören wollen,
wir haben hier in Avery nie jemanden gehabt, der so aufmerksam gelesen und
mitgedacht hat wie er. Ich bin seit fünfzehn Jahren an der Schule und kann nur
von den Schülern sprechen, die ich selbst unterrichtet habe, aber Rob galt
meines Wissens bei allen Lehrern hier als glänzender Schüler.
    Schade war nur, dass er in seinen Leistungen stark schwankte. Wenn
die geistige Herausforderung da war – und ich bin überzeugt, er hätte das
Studium an der  Brown als eine große
geistige Herausforderung betrachtet –, zeigte er sich der Aufgabe stets
gewachsen und lieferte ausgezeichnete, ja, hervorragende Arbeit ab. Aber wenn
ihm ein Kurs zu simpel erschien oder er den Lehrer nicht mochte – was
gelegentlich vorkam –, schaltete er einfach ab, und was er dann produzierte,
war kaum noch akzeptabel. Bei Diskussionen tat er sich immer hervor, und ich
glaube, dass ihm das in vielen Kursen geholfen hat, in denen er sonst nichts
Großartiges leistete. Ich sollte hier vielleicht der Ordnung halber erwähnen,
dass ich in Robs vorletztem Jahr nicht nur sein Englischlehrer, sondern auch
sein Betreuer war.
    Um auf den Faulkner-Aufsatz zurückzukommen, Rob hatte sich die
schwierigste Passage im ganzen Buch ausgesucht: die einzige Stelle, an der die
Matriarchin – Addie Bundren – spricht. Die Bedeutung der Passage tritt nicht
auf den ersten Blick zutage, man muss tiefer schürfen, um diese Frau zu
verstehen, die so unnatürlich und doch von zentraler Bedeutung für den Roman
ist. Rob gab einen Aufsatz ab, den ich so schnell nicht vergessen werde. Ich
glaube, kaum ein Anglistikstudent höheren Semesters hätte eine Arbeit
hervorbringen können, in der die Vorstellung vom ›Tod im Leben‹ so gut
verstanden wird. Es war, als würde Rob Addie Bundren kennen .
Es hat mich glatt umgehauen, um es einmal so auszudrücken. Ich habe alle
naheliegenden Quellen überprüft, um zu sehen, ob er die Arbeit vielleicht
geklaut hatte, aber es war eindeutig sein eigenes Werk. Er hatte auf jeden Fall
das Zeug dazu, so etwas zu schreiben. Da gibt es für mich keinen Zweifel. Rob
hat eine leichte, geistreiche Seite, aber er hat auch eine tiefere – vielleicht
sogar dunkle – Seite, und die hat wohl Addie Bundren angesprochen.
    Für die Arbeit bekam er den Preis für den besten Aufsatz seines
Jahrgangs. Keiner der anderen Bewerber kam ihm auch nur nahe.
    Ich war einer von denen, die Rob eine Empfehlung für die Brown
geschrieben haben. Es hat mich überhaupt nicht gewundert, dass er ›bevorzugt‹
aufgenommen wurde.
    Aber Rob hat, wie gesagt, diese dunkle Seite. Ich habe seine Eltern
kennengelernt, sie erschienen mir völlig normal, man kann also nicht behaupten,
es liege an seinem Elternhaus. Wer weiß, warum jemand ist, wie er ist? Ich
meine nicht dunkel in dem Sinn, dass man fürchten
musste, Rob würde sich eines Tages ein Gewehr schnappen und in der Bibliothek
herumballern. Nein, ich meine damit, dass er zu einer Art von Nihilismus fähig
war, den man gewöhnlich bei Sechzehn-, Siebzehnjährigen nicht antrifft. Gegen
Ende seines vorletzten Jahrs hat er damit angefangen, einige seiner Kurse zu
schwänzen, und das ging auch im letzten Jahr so weiter. Ich habe versucht, mit
ihm darüber zu sprechen, aber ich bin nicht sehr weit gekommen. Er wurde ein
Mal verwarnt, aber er trieb es dann doch nicht so weit, dass er vor den
Disziplinarausschuss musste.
    Ich mochte den Rob, den ich kannte, sehr. Sie haben wahrscheinlich
ein Foto von ihm gesehen. Er war ein lang aufgeschossener, magerer Junge mit
dickem dunklem Haar. Nicht gut aussehend, aber sympathisch. Ich habe mich immer
auf unsere Besprechungen gefreut. Er wollte gern wie ein Erwachsener behandelt
werden und wurde immer ein bisschen sauer, wenn er

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