Weinland & Stahl
wirklich haltsuchend griff er nach der nächsten Kirchenbank.
Blitze wollten jenseits der wuchtigen Mauern das gewitterfinstere Firmament über Brooklyn in Stücke reißen. Ihr greller Widerschein ließ die jahrhundertealten Fensterbilder der
Church of St. Margret
immer wieder sekundenlang in überirdischer Farbenpracht erstrahlen und wob die wenigen, vom Alter fast farblos gewordenen Heiligenfiguren ringsum in gespenstische Bewegung aus Licht und Schatten.
Regen prasselte gegen locker sitzende Fensterscheiben und ließ sie leise in den Rahmen klirren. Wind pfiff durch Ritzen ins Kirchenschiff. Irgendwo sickerte Wasser durch eine undichte Stelle des Daches und tropfte zu Boden.
Ein schweres Seufzen wehte von Father Cyrills Lippen, während er all diesen Geräuschen lauschte. So vieles hätte notgetan in der kleinen Kirche, die ihm von Anfang an mehr als nur Arbeitsstätte gewesen war. Seit vielen Jahren fühlte er sich hier nicht einfach nur zu Hause – er
war
es längst.
Umso schmerzhafter traf den Geistlichen der Verfall seiner Kirche. Als wäre er selbst davon betroffen. Und fast als einziger. Denn es kamen nicht viele hierher. Und diejenigen, die kamen – manche von ihnen mochten sich auch nur in das alte Gotteshaus
verirren
– , hatten kaum etwas, das sie für dringende notwendige Reparaturen spenden konnten.
Dennoch wünschte Father Cyrill, er hätte etwas tun können, um dieses Gotteshaus in einen etwas ehrwürdigeren Zustand bringen können. Gebete allein halfen in solch praktischen Dingen kaum, wie der alte Priester sich eingestehen musste. Aber immerhin schöpfte er aus ihnen die Kraft, nicht nachzugeben in seiner Hoffnung.
Ein klein wenig hatte sie sich ja schon erfüllt. Mit Reuven Lamarr. Der Junge war vor einiger Zeit in der
Church of St. Margret
aufgetaucht. Zufällig. Oder vielleicht auch vom Schicksal geführt. Denn er hatte Trost gesucht und bei Father Cyrill gefunden.
Der Geistliche hatte Reuven zugehört, als der über den Tod seiner Mutter gesprochen hatte, und er hatte den Jungen aufgerichtet, nicht nur mit Worten, sondern vielmehr noch mit dem, was nicht zu hören oder zu sehen, aber an einem Ort wie diesem doch allgegenwärtig war. Seitdem schaute Reuven Lamarr immer wieder einmal herein, und nie vergaß er dabei seine selbstgezimmerte Werkzeugkiste. Und meist brachte er auch etwas Baumaterial mit, von dem Father Cyrill nicht unbedingt wissen wollte, wo der Junge es besorgt hatte.
Auch für heute hatte Reuven seinen Besuch angekündigt...
Wieder ließ ein Donnerschlag die kleine Kirche erbeben, doch diesmal war er von anderer Art, weniger machtvoll, aber ungleich näher. Weitere dumpfe Schläge hingen dem krachenden Geräusch echohaft an, und ein Schwall feuchtkalter Luft fuhr durch das Kirchenschiff wie der Hauch eines eisigen Riesen.
Father Cyrill wandte sich in Richtung der Eingangstür. War sie unter einer Sturmbö aufgegangen oder von jemandem geöffnet worden?
»Reuven?«, rief der Geistliche und lauschte, doch niemand antwortete ihm.
Langsam ging Father Cyrill auf die Tür zu. Seine Hände streiften dabei die Kirchenbänke zu beiden Seiten des Mittelganges. Je näher er dem Eingang kam, desto heftiger traf ihn der regendurchsetzte Wind, und schließlich schien er dem alten Mann beinahe stark genug, dass er ihn von den Beinen fegen konnte. Fast war es, als wollte der Wind ihm verwehren, sich der Tür zu nähern.
Doch stattdessen verwehte der Gedanke. Just in dem Moment, da Father Cyrill spürte, dass er nicht länger allein war.
»Wer bist du?«, fragte er lächelnd. »Schließ die Tür und tritt näher. Komm, setz dich zu mir.«
Er streckte den Arm aus und fasste die Hand des Fremden. Kalt war sie und glatt, beinahe wie Porzellan. Und doch war sie auch weich und – vor allem kräftig.
Father Cyrill ließ sich auf der nächststehenden Bank nieder, rückte ein Stück zur Seite, so dass der andere sich neben ihn setzen konnte. Was dieser auch tat, und auch diese Bewegung und das Knarren des Holzes verrieten dem Geistlichen viel von der Kraft, die in dem fremden Besucher steckte.
»Was führt dich her?«, fragte Father Cyrill. »Bist du nur vor dem Gewitter geflohen oder suchst du die Stille dieses Ortes? Oder jemanden zum Reden? Du findest in der Church of Saint Margret all das und mehr.«
Der neben ihm Sitzende schwieg. Sein Atem ging schwer und langsam. Besorgniserregend langsam.
»Es scheint dir nicht gutzugehen«, meinte der Geistliche. »Bist du am Ende krank?
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