Weinland & Stahl
über die Klippen des Wahnsinns gestürzt, wenn Doreen nicht als Gleichgewicht in dir säße. Wenn du auf ihr nicht abladen könntest, worunter du allein zerbrechen würdest.«
»So ist es«, bestätigte Selina matt. »Aber ich bin sie leid. Ihr nie verstummendes Geflüster, das selbst durch meine Träume wispert...«
Sekundenlang schwieg sie mit verkniffenen Lippen, hielt Worte zurück, die Henna kannte, noch bevor Selina sie endlich doch aussprach.
»Ich wünschte, ich wäre wie du. Unter solcher Kraft könnte ich Doreen zermalmen. Ich fühle und denke längst wie du. Es fehlt nur noch ein winziger Schritt. Mach mich zu einer der euren, Henna!«
Selina hatte sich auf die Seite gedreht und sah die Vampirin bittend an. Wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, packte sie Henna hart an der Schulter.
Doch Henna streifte ihre Hand ab, rollte fort von ihr und erhob sich. Nackt begann sie durch den Raum zu gehen, ihren Blick hierhin und dorthin gerichtet, doch nie auf Selina.
»Ich würde es tun, wenn ich es könnte«, sagte sie schließlich. »Doch weder ich noch sonst einer unserer Art vermag wahre,
echte
Vampire zu erschaffen.«
Sie konnte Selinas fragenden Blick förmlich auf sich spüren.
»Aber... ist es denn nicht so, dass euer Biss, wenn er tötet, das Opfer zum Vampir macht?«
Henna lachte freudlos. »Wenn es so wäre, würde diese Welt längst von unserer Art überschwemmt sein.«
»Aber wie...?«
Henna wandte sich um, ging zurück zu Selina und ließ sich neben ihr auf der harten Liege nieder.
»Wie unser Volk sich vermehrt, willst du wissen?«
Selina nickte.
»Nun...«, setzte Henna an. Und erzählte von Dingen, die kein Mensch wissen durfte. Zumindest kein Mensch, der noch Gelegenheit haben würde, sie weiterzuerzählen...
Die Vampirin sprach vom Lilienkelch, mit dem der Hüter einst von Sippe zu Sippe gereist war. Das Blut des jeweiligen Oberhauptes war in den Kelch geflossen, und geraubte Menschenkinder hatten es trinken müssen. Sie waren daran gestorben, um schließlich aufzuerstehen – als Vampire.
»Doch der Kelch ging verloren. Vor zweihundertneunundsechzig Jahren. Und seither pflanzt sich die Alte Rasse nicht mehr fort. Wir sind ein sterbendes Volk. Um den Untergang abzuwenden, hat Borak, unser neuer Sippenführer, den Plan gefasst, eine neue Rasse zu erschaffen. Und der erste dieser neuen Rasse...«
»... wartet dort auf seine Erweckung«, vollendete Selina mit einer vagen Bewegung in Richtung der Tür, wo ein paar Flure und Treppen entfernt jenes künstliche Geschöpf im Nährbrei schlummerte.
»So ist es«, schloss Henna.
»Eine gemeinsame Zukunft bleibt also ein Traum?«, Selinas Blick wurde von Feuchtigkeit umnebelt. »Dein letzter Kuss würde mich nur zu etwas machen, in dem weniger Leben, weniger
Selbst
wäre, als ihr es in Brescia gelassen habt?«
Henna nickte.
»Das möchte ich nicht«, flüsterte Selina kaum hörbar.
»Das werde ich dir auch nicht antun«, sagte Henna.
»Dann wirst du mich...?«
»Nicht ich.«
»
Es
?«
Wieder nickte die Vampirin. »So habe ich es vorgesehen.«
Selinas Blick ging an ihr vorüber, schien Wände zu durchdringen und ein Ziel zu finden. Etwas, das noch schlief, aber bald schon erwachen würde. Um endlich zu stillen, was jetzt schon in ihm brennen musste...
»Vielleicht ist dies der Preis, den ich für mein bisheriges Tun entrichten muss.« Ihre Stimme schien Henna seltsam verändert. Als wäre es nicht Selinas, sondern –
– Doreens?
»Dein Blut wird es erwecken. Wird ihm die Augen öffnen für seine Bestimmung.«
Selina hielt die goldene Schale und fing damit das schwarze Rinnsal auf, das zäh aus Hennas Handgelenk floss. Mit der anderen Hand zog die Vampirin die Wundränder auseinander, die, der natürlichen Regenerierungskraft gehorchend, wie von selbst aufeinander zu drängten, um sich zu schließen.
»Es genügt«, sagte die Wissenschaftlerin. Henna ließ ihr Gelenk los, und wie sich schließende Lippen glitten die Ränder der Schnittwunde aufeinander zu und verschmolzen miteinander wie weiches Wachs.
Während Selina die bis zum Rand mit Schwärze gefüllte Schale in einer von der Decke hängenden Vorrichtung befestigte, ließ die Vampirin ihren Blick über den nackten Körper wandern, den sie zuvor gemeinsam von Drähten und Kabeln befreit und aus dem Tank gehoben hatten, um ihn auf diese Liege zu betten.
Selbst Henna, die Schönheit im herkömmlichen Sinne nie etwas hatte abgewinnen können, konnte sich dem
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