Weinzirl 04 - Gottesfurcht
Stimme. Ein Unterton, der keinen Widerspruch zuließ. Diese kleine Szene
vermittelte Gerhard im Bruchteil einer Sekunde den Eindruck, weshalb Baier es
so weit gebracht hatte. Warum er als harter Hund galt. Warum sein Urteil nie
angezweifelt wurde. Baier setzte Grenzen, und er musste dazu nur die Stimme
modulieren.
»Nun gut.« Gerhard
schluckte.
»Sollen wir glauben,
dass einer zu Tode erschreckt wird? Oder sollen wir einen hundsgewöhnlichen
Herzinfarkt nicht einfach Infarkt sein lassen? Herr Weinzirl? Und dann sitzt er
da fast griabig.« Baier knurrte nun wieder wie ein Pitbull.
Gerhard sah Baier
an, dann den Toten. Johann Draxl, ein zacher Tropf? Ja, zäh, sehnig, gesund,
immer mit dem Radl unterwegs und tot! Die Eiben über ihm hatten wieder begonnen
zu flüstern.
»Wir haben einen
Totenschein, der keine natürliche Todesursache bestätigt. Natürlich lassen wir
obduzieren.« Gerhard hatte »wir« gesagt, so wie Baier schon vorher. Wir!
Gerhard war mittendrin in einem Fall, mittendrin in einem neuen Leben. Er war
diesem Draxl fast dankbar. Gerhard mochte keine Leerläufe.
Ein Mann kam auf sie
zugelaufen. Eine gewaltige Kameratasche zog ihn in leichte Schräglage. Baier
stellte sich ihm in den Weg. »Greinau, sind Sie auf der Jagd nach ‘ner
Weihnachtsgeschichte? Keine Fotos von der Leiche. Erst, wenn sie
abtransportiert ist. Ach, darf ich vorstellen: Gerhard Weinzirl, unser neuer
Mann, Erasmus Greinau, Tagblatt. Greinau, wieso schon hier? Hat Ihr Nachbar
schon wieder den Polizeifunk abgehört?« Er drohte Greinau scherzhaft mit dem
Finger.
Gerhard musste auch
grinsen. Es war ja ein Witz, dass überall auf der Welt die Polizei über
digitalen Funk verfügte, nur in Deutschland analog gefunkt wurde und jeder
Hobbyfunker abhören konnte. Ohne Anstrengung und Kreativität.
Greinau lächelte.
»Herr Baier, Ihnen muss ich das doch nicht erklären.« Er wandte sich Gerhard zu
und sah ihn prüfend an. »Grüß Gott, Herr Weinzirl, da könnten wir beide doch
gleich ein Foto machen. Die Zeitung wird allemal eins brauchen von Ihrer
Inthronisation.« Gerhard nickte, eingedenk der Regel, dass es besser war, einen
guten Kontakt zur Presse zu pflegen. Manchmal brauchte man die Schmierfinken ja
schließlich. Hätte er allerdings geahnt, mit wem er es da zu tun bekam! Greinau
hatte von einem Foto gesprochen, aber das, was nun folgte, war ein
Fotoshooting. Gerhard war doch nicht Heidi Klum! Aber der Fotograf brachte
seinerseits auch vollen Einsatz. Warf sich auf den Boden, erklimmte rutschige
Baumstümpfe für immer neue Perspektiven. Jahre später, schien es Gerhard, war
er zufrieden und enteilte in derselben Schräglage, wie er gekommen war. Es war,
als folge er seiner Kameratasche, als zöge sie ihn vorwärts zu immer neuen
Motiven.
»Himmel, der nimmt’s
aber genau!« Gerhard stöhnte und dachte ans Allgäu, wo manche der Fotografen
sozusagen im Vorübergehen geblitzt hatten.
»Ja, guter Mann,
eher ein Künstler. Ein bisschen Diva. Aber ein guter Mann. Glück für so ein
Lokalblatt.«
Baier hatte sein
Handy rausgezogen, eines aus der Generation, als Handys noch groß wie
Kühlschränke waren. Er forderte den Erkennungsdienst an, traf Arrangements für
den Abtransport der Leiche. Dann sprach er mit der Gerichtsmedizin in München
und ließ sich mit Professor Stahlmischer verbinden. Der als »oide Fischhaut«
Bezeichnete scherzte anscheinend mit Baier. Nach einer Weile des Geplänkels
sagte Baier: »Schau mir mal nach Fingerabdrücken auf den Augenlidern.«
»So«, sagte Baier,
als sie wieder im Auto saßen, »dann fahren Sie mal zu Ihrer neuen Bleibe. Alles
Weitere morgen.«
»Wollen Sie die
Staatsanwaltschaft nicht informieren?«, fragte Gerhard.
»Eilt nicht! Warten
die Obduktion ab. Machen uns ja lächerlich, wenn’s doch nur ein Herzinfarkt
war.«
Sie schwiegen bis
Weilheim, Baier reichte Gerhard kurz die Hand, nickte ihm zu und verschwand im
Gebäude. Also setzte sich Gerhard in seinen Bus und tuckerte los, nun wusste er
zumindest, wo er wohnte. Es war sieben Uhr abends geworden, als er bei den
Pseudosäulen in den Hof einbog. Das Anwesen bestand komplett aus Holz. Gerhard
schepperte über eine Art Tennenbrücke und stand mitten in einem Hof. Seine
Scheinwerfer, die im dicken Nebel stocherten, tauchten diverse Nebengebäude,
ein Unimog-Ungetüm, eine Kutsche und andere undefinierbare Gerätschaften in ein
milchiges Licht. Das Haus war dunkel. Gerhard hatte einige Probleme,
auszumachen, wo der Eingang sein
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