Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
schöne Ferien gewünscht hat.
»Dem, der erwartet, widerfährt das Erwartete, jedoch dem, der hofft, das Unverhoffte.«
Ein Satz von Heraklit.
Was mich betrifft, ist das ein schlechter Witz: Ich habe alles verloren, auf das ich gehofft hatte.
Und so verglüht dieses Schuljahr wie ein Feuerwerk. Dieses Jahr hat ein Leben gedauert. Ich bin am ersten Schultag geboren und in nur zweihundert Tagen groß geworden und gealtert. Jetzt erwartet mich das Jüngste Gericht der Zeugnisse, und dann beginnt hoffentlich das Paradies der Ferien … Ich werde versetzt, und meine Noten sind gar nicht mal so übel.
Doch eines habe ich dank Beatrice begriffen: Ich kann es mir nicht leisten, auch nur einen einzigen Tag meines Lebens zu vergeuden. Ich dachte, ich hätte alles, doch ich hatte nichts, im Gegensatz zu Beatrice, die nichts hatte, und dennoch alles.
Mit Niko und den anderen habe ich nicht mehr geredet. Wegen mir haben wir das Turnier verloren. Ich habe nie gesagt, was passiert ist. Es ist mir wurscht. Total wurscht. Silvia hat mir einen Brief gegeben, aber ich mach ihn nicht auf. Ich will ihn nicht lesen. Ich habe nicht den Mut, schon wieder zu leiden.
Barba, der Hausmeister, schaut zur Tür herein und sieht mich reglos dasitzen und ins Leere starren.
»In drei Jahren habe ich dich noch nie als Letzten rausgehen sehen. Was ist los? Haben sie dich nicht versetzt?«
»Nein, ich hab nur nachgedacht …«
»Na, dann ist also tatsächlich ein Wunder geschehen!«
Wir lachen zusammen, und ein Klaps auf die Schulter muss genügen, um ins Leben zurückzukehren.
Ich bin schon halb den Flur hinunter, als ich mich umdrehe und ihm zurufe:
»Nicht wegwischen!«
Die Schule ist eine verkehrte Welt: Hier steht nichts schwarz auf weiß, sondern umgekehrt. In der Schule dient alles dazu, vergessen zu werden, wie weißer Kreidestaub.
Barba hat mich nicht gehört, und der Tafelschwamm, Waffe zahlloser Schlachten, fährt unerbittlich über die Hoffnungen eines Träumers.
Nach dem Sommer
Dann rufe weinend von dem Schmerzenspfühle
ich Beatrice an: »Sag, bist du tot?«
Indes ich rufe, lindert sie die Not.
Dante Alighieri, Vita Nova, xxxi
D er Sommer ist der Grund, weshalb man am Leben ist, doch dieser Sommer war anders: kein Radau, sondern Stille. Den ganzen Sommer lang habe ich niemanden gesehen oder gesprochen. Fast drei Monate lang habe ich in der Pension in den Bergen verbracht, wo wir immer hinfahren. Dieses Jahr habe ich mich zum ersten Mal drauf gefreut. Ich hatte die Stille nötig. Ich hatte es nötig, allein spazieren zu gehen; keine neuen Freunde zu finden; nicht um jeden Preis ein Mädel aufzureißen, nur, um Niko nach den Ferien was erzählen zu können. Ich hatte meine Eltern nötig. Ich hatte Beatrices Tagebuch nötig, denn es enthielt einen Funken Glück. Ich hatte das Nötigste nötig, und das ist in den Bergen leichter zu finden.
Einen Sternenhimmel wie in den Bergen findet man nirgendwo sonst. Mein Vater erzählt mir oft Geschichten von den Sternen. Meine Mutter hört zu und hat eher Augen für uns als für die Sterne. Eines Abends erzählt mein Vater mir die Geschichte des Sterns, den ich Silvia geschenkt habe, und sein noch immer warmes Licht erhellt ein winziges Eckchen meines Herzens, das ich mit zahllosen Riegeln verrammelt hatte.
Ich habe es nicht geschafft, Silvias Brief zu öffnen, ich habe ihn noch nicht mal mitgenommen. Ich schreibe ihr noch immer SMS, aber ich pack’s nicht, sie abzuschicken. Aber ich speichere sie alle: Kategorie NGN.
Ich hab auch alle Nachrichten gespeichert, die sie mir geschickt hat. Ich kann sie einfach nicht löschen. Es müssen über hundert sein, und hin und wieder, wenn ich nicht weiß, was ich machen soll, an nichts denke, mich langweile oder es nötig habe, lese ich ein paar. Ich scrolle sie runter und picke mir die Nummer raus, die mich am meisten anspricht. Dreiunddreißig: »Du bist der dämlichste Typ, den ich kenne, aber wenigstens bist du nicht langweilig …« Zwölf: »Denk an das Geschichtsbuch, Blödmann!« Sechsundfünfzig: »Jetzt hör auf, dich so anzustellen. Lass uns was trinken gehen und dann erzählst du mir alles.« Einundzwanzig: » Was für ’ ne Schuhgröße hast du? Welche ist deine Lieblingsfarbe?« Hundert: »Ich auch«.
Meine Lieblingsnachricht: Ich hab alles hineingedacht, was ich wollte, und immer antwortete sie mir, »ich auch«. So war ich nie allein. Sie hat die Nummer hundert, und das ist eine Glückszahl. Ich könnte einen ganzen Roman
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