Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
ich habe. Ich lege ihn in ihre Hand, als wäre es ein Diamant:
»Mein Glücksbringer, du sollst ihn haben.«
Beatrice lächelt, und in ihren Augen leuchtet der Himmel.
»Danke.«
Ich küsse sie auf ihr rotes Haar, und plötzlich füllt sich mein Leben mit ihrem Blut.
»Bis zum nächsten Mal.«
»Bis zum nächsten Mal.«
Ich drücke Beatrices Tagebuch fest an meine Brust, als wäre es meine Haut. Ich muss daran denken, dass ich das Einzige, was ich ihr schenken konnte, in ihrer Wohnung gestohlen habe. Ich habe nichts zu verschenken, abgesehen von der Liebe, die ich bekomme oder anderen stehle. Ehe ich Beatrices Haus verlasse, nehme ich mir einen neuen blauen Stein. Ich kann schließlich nicht ohne meinen Glücksbringer sein …
D ie Nacht ist der Ort der Worte.
Die Worte aus Beatrices Tagebuch haben meine erste Nacht als wacher, lebendiger Mensch taghell werden lassen: meine erste Nacht. Die Nacht, in der andere miteinander schlafen.
Wenn es das Paradies gibt, dann bringt Beatrice mich hin.
»Der Schmerz zwingt mich, die Lider zu schließen, die Augen zu schützen. Ich habe immer geglaubt, ich würde die Welt mit meinen Augen verschlingen, wie Bienen hätten sie auf allem verweilt, um die Schönheit in sich aufzusaugen. Doch die Krankheit zwingt mich, sie zu schließen: vor Schmerz, vor Müdigkeit. Nur ganz allmählich habe ich begriffen, dass ich mit geschlossenen Augen mehr sehe, dass die Schönheit der ganzen Welt unter den geschlossenen Lidern sichtbar wird, und diese Schönheit bist Du, Gott. Du schließt mir die Augen, damit ich aufmerksamer bin, wenn ich sie wieder öffne.«
Das steht in Beatrices Tagebuch. Und ich schließe heute die Augen und betrachte das Leben mit ihrem Blick. Hätte das Leben Augen, dann wären es Beatrices. Von heute an will ich das Leben lieben wie nie zuvor. Fast schäme ich mich, dass ich nicht schon früher damit angefangen habe.
I ch komme aus der Schule. Meine Mutter öffnet mir.
»Was gibt’s heute zu essen?«
Sie sieht mich an, wie man ein kleines Kind ansieht, das sich wehgetan hat.
»O nein, bitte keine Gemüsesuppe …«
Ich sage ihr, dass ich in Philo eine Zwei gekriegt habe, aber noch ehe ich ihr was zum Thema sagen kann, nimmt sie mich fest in die Arme und drückt mein Gesicht gegen ihre Schulter.
Ich rieche den Duft meiner Mutter, ein Duft, der mich als Kind beruhigt hat: ein Gemisch aus Rose und Zitrone. Ganz zart. Doch sie umarmt mich nicht wegen der Note, sonst würden ihre Tränen nicht auf meine Wange tropfen. Erst da verstehe ich.
Ich will abhauen, aber sie lässt mich nicht los, und ich vergrabe meine Finger in ihrem Fleisch, um zu begreifen, ob das, was sie mir ohne Worte sagt, wahr ist.
Meine Mutter ist die einzige Frau, die mir bleibt.
Die einzige Haut, die ich noch habe.
B eatrice ist tot.
So ist es. Es hat keinen Zweck, drumherum zu reden, das hätte sie nicht gewollt. Die Leute sagen, sie ist verblichen, von uns gegangen, entschlafen. Blödsinn!
Beatrice ist tot.
Dieses Wort »tot« ist dermaßen heftig, dass man es nur einmal sagen kann und dann schweigen muss.
Silvia ist die Einzige, mit der ich jetzt gern reden würde, aber ich habe nicht die Kraft, ihr die Lüge zu verzeihen. Das Leben ist eine Prüfung, die einzig dazu da ist, einem eine Wahrheit abzupressen, die man nicht kennt und die man sich aus den Fingern saugt, nur um nicht noch mehr zu leiden … und irgendwann glaubt man den Mist und vergisst, dass man ihn selbst erfunden hat.
Gott, die Sterne haben ausgedient: Du kannst sie löschen.
Bau die Sonne ab und pack den Mond ein.
Leere die Meere und reiß die Pflanzen aus.
Denn nichts hat mehr Bedeutung.
Und lass mich vor allem in Ruhe!
D ie Kirche platzt vor Menschen: Die ganze Schule ist da. Alle drängen sich um eine Hülle aus glänzendem Holz, die ihren Körper und ihre erloschenen Augen birgt.
Die Beatrice, an die ich mich erinnere, gibt es nicht mehr, und die, die jetzt in dieser Holzkiste liegt, ist eine andere Beatrice. Das ist das Geheimnis dieser Sache mit Namen Tod. Doch das, was ich in ihr und an ihr geliebt habe, ist nicht fort. Es hat sich nicht verflüchtigt wie ein allzu hastiger Atemzug. Ich halte ihr Tagebuch fest in den Händen, es ist meine zweite Haut.
Gandalf hält die Messe ab. Wieder einmal. Er spricht vom Geheimnis des Todes und erzählt von einem gewissen Hiob, dem Gott alles nahm, und dennoch ist Hiob ihm treu geblieben, auch wenn er den Mut hatte, ihm seine Grausamkeit vorzuwerfen.
»Und
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