Weiße Nächte, weites Land
trieben. Christina hatte die Hand gegen die Schwester erhoben, aber noch im Rauslaufen hatte Klara ihre Beschimpfungen fortgesetzt.
In Erinnerung daran kochte erneut Zorn in Christina hoch. Was bildete sich dieses missratene Geschöpf ein? Glaubte sie tatsächlich, auf diese Art ihre Pläne durchkreuzen zu können? Keinesfalls würde sie sich von der jüngeren Schwester in die Suppe spucken lassen. Sie würde zu drastischen Erziehungsmaßnahmen greifen, falls die Göre sich noch länger gebärdete wie tollwütig. Was konnte schlimm daran sein, der Einladung der mächtigsten Frau der Welt in ihr Land zu folgen? Zarin Katharina war selbst Deutsche. Hatte es ihr etwa geschadet, die Heimat zu verlassen?
Christina sah auf, als ihr eine hagere Gestalt entgegenkam, den Kopf gesenkt gegen den leichten Wind, die Kapuze des Umhangs, der um sie flatterte wie um das hölzerne Gerippe einer Vogelscheuche, weit in die Stirn gezogen. Trotzdem erkannte Christina sie sofort – Anja Eyring, die Tochter des Apothekers.
Mit einem flüchtigen Nicken wollte Anja an ihr vorbeilaufen, aber Christina sprach sie an. »Gott zum Gruße, Anja! Dank dir nochmals für die Kräutersalbe, die du gebracht hast.«
Christina kannte die zwei Jahre ältere Frau wie alle Bewohner von Waidbach und den angrenzenden Dörfern. In der kurzen Zeit der Kindheit hatten sie miteinander auf den Feldern herumgetollt, bevor das Leben sie lehrte, ums Durchhalten zu kämpfen und die Schüsseln auf dem Tisch zu füllen, statt übermütig den Feldhasen hinterherzujagen und Wildblumen zu Kränzen zu binden.
Offenbar widerwillig blieb Anja stehen und linste unter der Kapuze hervor, ohne sie abzunehmen. Christina wusste, dass sie jede Möglichkeit nutzte, das Feuermal, das sich von ihrer linken Wange über den Hals bis zur Brust zog, zu verbergen. »Hat ja nun nichts genutzt. Mein Beileid noch, Christina, zum Tod der Mutter.«
»Danke, Anja. Doch, hat was genutzt. Immerhin konnte sie deshalb die letzten Tage besser atmen.«
Anja hob die Schultern. »Ich muss weiter. Die Veronica kommt nieder. Die Hebamme hat nach mir rufen lassen wegen der Salbe zum Dehnen …«
Christina nickte und setzte ihren Weg fort. Solcherart Neuigkeiten kümmerten sie nicht.
Links bog sie zum Weber-Haus ab. Aus der Entfernung erschien ihr das morsche Fachwerk mit den rissigen Füllungen, als könnte der nächste kräftige Windstoß es umpusten wie ein Kartenhaus.
Der Vorgarten lag um diese Zeit brach, der Schnee hatte das Herbstunkraut niedergedrückt, das nun in braunen, fauligen Halmen wieder zum Vorschein kam.
Vor ein paar Jahren noch war gerade dieses Gartenstück Mutters Lieblingsplatz gewesen. Die drei Apfelbäume, der Walnussbaum, die zahlreichen Kräuter zwischen Findlingen und Mutterboden, die Möhren und Zwiebeln, die den Kohleintopf verfeinerten … Die Läden der Kellerfenster, hinter denen sich der Webstuhl und der Lagerraum für das Leinen befanden, hingen schief in den Angeln. Einige zersplitterte Holzbalken ragten hervor und faulten in der spätwinterlichen Luft.
Nein, das Weber-Haus machte keinen heimeligen Eindruck mehr. Christina würde das Zuhause ihrer Kindheit nicht vermissen. Noch bevor sie die zwei Stufen zum Eingang erreichte, wurde die hölzerne Tür knarrend aufgerissen.
Mit Sophia auf dem Arm stand Eleonora vor ihr, ihr Gesicht weiß wie Sauermilch, die Augen angstvoll aufgerissen. »Christina, endlich …«, stieß sie hervor.
Christina verhielt den Schritt vor den Stufen, starrte zur Schwester hinauf. »Was ist passiert?«
»Klara … Sie ist verschwunden.«
2. Kapitel
M arliese Röhrich wusste nicht, wie lange sie auf dem Boden der Schlafkammer gelegen hatte. Als sie erwachte, fühlte sie einen stechenden Schmerz hinter ihren Schläfen. Sie blinzelte und stöhnte. Schräg fielen die Strahlen der Nachmittagssonne auf die Bodenbretter.
Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Ein paar Stunden, ein paar Minuten? Ein schepperndes Geräusch hatte sie geweckt, aber Marliese wusste es nicht einzuordnen.
Sie stützte die Handflächen auf den Boden, um sich aufzurichten. In ihrem Kopf begann es sich zu drehen, die Übelkeit in ihrem Magen trieb einen sauren Geschmack in ihren Mund.
Sie schluckte mehrfach, um gegen den Drang, sich zu übergeben, anzukämpfen, doch vergeblich. Mit einem lauten Würgen erbrach sie sich auf allen vieren am Fußende des Ehebettes. Tränen und Speichel flossen über ihr Gesicht. Sie wischte es sich mit der flachen Hand
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