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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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dringend benötigten Kerzen gießen zu können. Deswegen war er ihm nun einen kleinen Dienst schuldig. Eine komplette Erneuerung, die das Schuhwerk dringend gebraucht hätte, ging allerdings über das hinaus, was ein Kübel Talg wert war. Das wusste Bernhard so gut wie sein Kunde.
    Trotzdem verrichtete Bernhard das vom Vater erlernte Handwerk sorgfältig und konzentriert, als wäre ein Edelmann aus der Stadt der Kunde und nicht etwa der zerlumpte Wilhelm vom Nachbarhof.
    Alles, was Bernhard anpackte, erledigte er mit Bedacht und höchstem Anspruch an sich selbst.
    Der harzig-würzige Geruch nach altem Leder und Leim umgab ihn, die milchige Sonne blinzelte durch die Fenster der Werkstatt und ließ aufgewirbelte Staubkörner blinken. Bernhard strich sich eine Strähne der schulterlangen Haare, die er im Nacken mit einem Lederband zusammenhielt, hinter die Ohren und griff nach der Drahtbürste, um den Schmutz rund um das Loch im Schuh zu entfernen. Bis zum Einsetzen der Dunkelheit sollte er diese Arbeit erledigt haben.
    Die Flickschusterei war nicht das, was sich der Zwanzigjährige vom Leben erträumte. Es gab allerdings auch nichts anderes, wonach er sich gesehnt hatte, bis vor wenigen Wochen in der Kirche zum ersten Mal das Manifest verlesen worden war.
    Ein, zwei Abende lang hatte er in der Stille vor dem Einschlafen, wenn der Mond in seine Kammer schien, mit dem Gedanken gespielt, ganz allein nach Russland aufzubrechen, allem Elend den Rücken zu kehren, aber sein Gewissen ließ ihm keine Ruhe.
    Er konnte sie nicht im Stich lassen.
    Seine hilflose Mutter nicht, nicht den schwachsinnigen Bruder und die Schwester, die an ihm mit einer so unerschütterlichen Zuneigung hing, dass ihm der Gedanke, sie zu enttäuschen, das Herz schwer machte. Dem Familienvater sollten Liebe und Respekt gehören, aber Johann hatte schon vor vielen Jahren mit seinem herrischen, jähzornigen Gebaren alles Ansehen eingebüßt.
    Schließlich hatte der Vater selbst die Angelegenheit zur Sprache gebracht. Warum nicht auswandern, wenn sie ohnehin nichts mehr zu verlieren hätten?
    Bernhard hatte gezögert. Was sollte drüben, in dem großen Reich, anders sein, wenn sie ihr erbärmliches Familienleben dort fortsetzten? Er bezweifelte, dass der Himmel über Russland Einfluss auf den Charakter seines Vaters haben würde, und Fusel für die Mutter, der sie zu einem hilflosen Wrack verkommen ließ, gab es überall.
    Trotzdem aber unterstützte Bernhard seinen Vater, holte sich alle notwendigen Auskünfte von einem der zahlreichen Werber der Zarin, hörte sich nach zahlungskräftigen Käufern für die Werkstatt, den Hof und das Vieh um.
    Ein Schrei, der ihm durch Mark und Bein ging, ließ ihn in seiner Flickarbeit innehalten. Er lauschte.
    Was war das? Ein verletztes Tier? Eine der Hofkatzen, die sich am Waldrand mit einem Fuchs anlegte? Aber nein, der Schrei kam von drüben, von der Scheune her.
    Bernhard legte Schuh und Werkzeug beiseite, wischte sich die Hände an den Beinlingen ab und öffnete die Werkstatttür. Sein ungewöhnlich hoher Wuchs hatte ihn schon in frühester Jugend gelehrt, mit gebeugtem Rücken zu gehen, um nicht gegen Türrahmen zu stoßen. Die krumme Haltung gehörte zu seinem Erscheinungsbild wie der mit einem Lederband umwickelte Zopf im Nacken.
    Die Hof lag keine zwanzig Schritte entfernt, dazwischen nur der Gemüsegarten, in dem die Mutter Rüben und Kohl zog und früher, als sie noch Freude an solchen Dingen hatte, Levkojen und Lilien.
    Bernhard hastete weit ausschreitend über den von Unkraut überwucherten, mit glitschigen Kieselsteinen bedeckten Weg zwischen den verwilderten Beeten und um die Scheune herum.
    Nach Atem ringend, blieb er stehen, sah, dass die Haustür weit offen stand. Die mageren Hühner pickten im Schlamm auf dem Hof.
    Neben dem Misthaufen entdeckte er seine Mutter. Sie stand da wie ein Gespenst mit ihren ungekämmten, vom Kopf abstehenden grauen Haarflusen, das Gesicht kalkweiß, den Mund zu einem Schrei verzogen, die Augen blutunterlaufen. Die Arme hatte sie von sich gestreckt, die Hände und Finger verkrampft. Das dünne graue Kleid schlotterte um ihren knochigen Körper.
    »Mutter!« Bernhard rannte los. Er wusste nicht, wann er sie das letzte Mal unter freiem Himmel gesehen hatte. Was hatte sie bewogen, die Sicherheit des Hauses zu verlassen? Und was, in Gottes Namen, hatte sie bewogen, so markerschütternd zu schreien?
    Wenige Schritte vor ihr erkannte Bernhard, was sie aus der Fassung gebracht

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