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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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umklammern ließen, dass sich die pergamentdünne Haut über ihren Fingerknöcheln zum Zerreißen spannte. Sie wusste, dass der nächste Schluck Schnaps diese Empfindungen auf der Stelle dämpfen und schließlich verklingen lassen würde.
    Schon wollte sie ihren Weg fortsetzen, den Schuppen nach dem ersehnten Fässchen durchsuchen, da wandte sich Christina um.
    Sofort verbarg sich Marliese, drückte sich an die Holzwand. Hörte wie durch trübes Wasser den kurzen Wortwechsel der beiden, bevor die junge Frau davonlief, um hinter dem Kuhstall die Milch abzufüllen und sich auf den Heimweg zu begeben.
    Wenn sie krepieren, brauche ich zwei hungrige Mäuler weniger zu stopfen. Ich weine ihnen keine Träne nach.
    Marliese wusste, was ihr Mann von ihr hielt. Aber diese Worte trugen dazu bei, dass sich der Hass in ihr verdichtete und gefährlich zu brodeln begann. Sie griff sich an den Hals, glaubte einen kurzen Moment lang zu ersticken, kniff die Augen zusammen.
    Als sie sie wieder öffnete, stand er vor ihr.
    Auf seinen Zügen machte der Ausdruck der Überraschung einer spöttischen Miene Platz, als er sie anstarrte. »Was gaffst du hier, Alte?« Sein Lachen ging in ein Husten über, aber die Fältchen um seine glitzernden Augen blieben. »Geilt es dich auf, mir beim Vögeln zuzuschauen, ja? Hat es deine vertrocknete Pflaume zum Leben erweckt?« Ein verächtliches Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus, als er mit ausgestreckter Hand, als wollte er sie im Schritt berühren, auf sie zutrat.
    Sie wich zurück, die Mistgabel fest umklammert.
    Er stierte auf die Zinken. Wieder ein hohnschnaubendes Lachen. »Was willst du mit der Harke? Willst du sie mir in den Bauch rammen? Mach dir nichts vor, Alte, selbst dafür fehlt dir die Kraft. Du bist zu gar nichts mehr zu gebrauchen.«
    Als sie ein weiteres Stück zurückwich, um seiner Hand auszuweichen, stolperte sie und landete auf dem Misthaufen.
    Johann stützte die Hände in die Hüften und legte beim Lachen den Kopf in den Nacken. »Ja, drück dich in die Hühnerscheiße, alte Vettel! Da gehörst du hin.«
    Wie eine Rotte hungriger Ratten verbiss sich jedes einzelne Wort ihres Mannes in ihr. Marliese wollte schreien vor Schmerz, aber kein Laut drang aus ihrem weit geöffneten Mund. So oft hatte er sie in den letzten Jahren gedemütigt, aber nun, da sie fast ausgenüchtert war und vor Verlangen nach Schnaps am ganzen Körper zitterte, war es, als fehlte eine Schutzwand, und all seine Bosheit drang bis in ihr tiefstes Inneres.
    Dann war es, als explodierte etwas in ihr, gefolgt von einem gleißenden Blitz hinter ihrer Stirn. Es war, als verließe sie ihren Körper und beobachtete sich selbst, wie sie auf einmal die Zähne knirschend zusammenbiss, sich emporstemmte, mit beiden Händen die Mistgabel packte, sie anhob. Sie sah, wie das Grinsen aus seinem Gesicht fiel, wie er die Arme hochreckte und einen Schritt zurückwich. Dann sah sie sich wieder selbst, wie sie zustieß.
    Ein tiefer Schrei hallte über Haus und Hof. Marliese bemerkte erst einen Wimpernschlag später, dass sie selbst ihn hervorgebracht hatte, während die Zinken der Mistgabel durch Johanns Leinenhemd und in seine Gedärme drangen wie durch ranzige Butter. Das vergilbte Weiß des Hemdes färbte sich zu dunklem Rot.
    Ungläubigkeit breitete sich in den verzerrten Zügen ihres Mannes aus. Dickflüssiges Blut gluckerte aus seinem Mund, die Augen schienen aus ihren Höhlen zu quellen. Wie eine Ewigkeit erschien es Marliese, während sie auf ihren wankenden Mann starrte, bis er endlich zusammenbrach. Der durchbohrte Leib sank seitlich vor ihre Füße, der Kopf mit dem Gesicht voran auf den im Schatten dampfenden Misthaufen.

    Nicht weit entfernt, in der Schusterwerkstatt, plazierte Bernhard Röhrich an der Werkbank einen Flicken auf dem Sonntagsschuh des Schlachters, den dieser verschämt abgegeben hatte: »Mach nur das Nötigste dran, Bernhard. Du weißt …«
    Bernhard hatte genickt. »Schon in Ordnung, Wilhelm.«
    Der Schlachter gehörte zu den wenigen, die ihre Schuhe noch zum Ausbessern brachten. Die meisten anderen trugen sie, bis sie ihnen in Fetzen von den Füßen fielen, oder hielten sie mit umwickelten Stoffbahnen zusammen, bis sie an den ersten warmen Tagen barfuß laufen konnten. In diesen Zeiten hatte keine Familie in Hessen einen Kreuzer zu viel.
    Im Herbst nach der letzten Schlachtung hatte ihm Wilhelm vorsorglich einen Kübel Talg vorbeigebracht, wertvolles Material, um die für den Winter

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