Weißer Fluch: Band 1 (German Edition)
schüttele den Kopf.
» Leiden Sie in letzter Zeit unter Stimmungsschwankungen? « , fragt Dekan Wharton.
» Nein « , antworte ich.
» Irgendwelche Ess- oder Schlafstörungen? « Er hört sich an, als würde er aus einem Ratgeber zitieren.
» Das Problem betrifft tatsächlich mein Schlafverhalten « , sage ich.
» Was wollen Sie damit sagen? « Ms Northcutt klingt auf einmal hellwach.
» Gar nichts! Außer dass ich geschlafwandelt bin und nicht versucht habe, mich umzubringen. Selbst dann würde ich nicht vom Dach springen. Und wenn ich doch vom Dach springen wollte, würde ich mir vorher eine Hose anziehen. «
Die Rektorin trinkt einen Schluck Kaffee. Ihr Griff hat sich entspannt. » Unser Anwalt hat mich angewiesen, Sie nicht mehr im Schlaftrakt übernachten zu lassen, es sei denn, Sie können ein ärztliches Attest anbringen, dass so etwas nicht mehr vorkommen wird. Ehe das nicht geklärt ist, stellen Sie ein zu hohes Risiko für unsere Haftpflichtversicherung dar. «
Ich hatte erwartet, dass Sie mir einen Haufen Mist erzählen würden, aber mit solchen Folgen habe ich nicht gerechnet. Mit einer Strafpredigt ja, möglicherweise sogar mit einem Tadel. Ich bin erst mal zu geschockt, um etwas zu sagen.
» Aber ich hab doch gar nichts verbrochen « , sage ich schließlich.
Das ist natürlich dumm. Als ob man bekommen würde, was man verdient. Abgesehen davon habe ich jede Menge verbrochen.
» Ihr Bruder Philip wird Sie abholen « , sagt Dekan Wharton. Als er einen Blick mit der Leiterin tauscht, fasst er sich unwillkürlich an den Hals, wo ich eine bunte Schnur und den Umriss des Amuletts unter seinem weißen Hemd entdecke.
Verstehe. Sie fragen sich, ob mich jemand bearbeitet hat, ob es ein Fluch war. Es ist kein großes Geheimnis, dass mein Großvater als Todeswerker für die Zacharov-Familie gearbeitet hat. Die schwarzen Stummel anstelle seiner Finger sind der Beweis. Und wenn sie Zeitung lesen, wissen sie auch über meine Mutter Bescheid. Mr Wharton und Ms Northcutt brauchen nicht sonderlich viel Fantasie, um alles und jedes, was ihnen an mir komisch vorkommt, auf die Fluchmagie zu schieben.
» Sie können mich nicht wegen Schlafwandelns rauswerfen. « Ich stehe auf. » Das ist doch nicht legal. Bestimmt diskriminieren Sie damit… « Ich höre auf zu reden, weil mir für einen Moment mulmig wird, als ich mich selbst frage, ob mich jemand verflucht hat. Rückblickend versuche ich, mich zu erinnern, ob mich eine Hand gestreift hat, aber mir fällt wirklich niemand ein, der mich ohne Handschuhe berührt haben könnte.
» Über deine Zukunft hier in Wallingford haben wir noch nicht endgültig entschieden. « Die Schulleiterin blättert in den Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. Der Dekan gießt sich einen Kaffee ein.
» Ich kann immer noch als Tagesschüler kommen. « Ich möchte nicht in einem leeren Haus schlafen oder bei einem meiner Brüder unterkriechen müssen, aber so wird es kommen. Ich werde alles dafür tun, damit mein Leben so bleibt, wie es ist.
» Gehen Sie auf Ihr Zimmer und packen Sie ein paar Sachen. Betrachten Sie sich als krankgeschrieben. «
» Aber nur bis ich das Attest anbringe « , sage ich.
Da ich keine Antwort bekomme, stehe ich noch kurz unbeholfen herum und gehe dann.
Verschwendet nicht zu viel Mitleid an mich. Dies ist die nackte Wahrheit: Mit vierzehn habe ich ein Mädchen getötet. Sie hieß Lila, sie war meine beste Freundin und ich habe sie geliebt. Trotzdem habe ich sie umgebracht. Vieles an diesem Mord ist in meiner Erinnerung verschwommen, aber meine Brüder haben mich gefunden, wie ich über ihrer Leiche stand, mit Blut an den Händen und einem seltsamen Lächeln auf den Lippen. Ich selbst erinnere mich vor allem an das Gefühl, das ich hatte, als ich auf Lila herunterblickte– diese fröhliche Genugtuung, irgendwie davongekommen zu sein.
Außer meiner Familie– und mir natürlich– weiß niemand, dass ich ein Mörder bin.
Da ich das aber lieber nicht wäre, verbringe ich die meiste Zeit in der Schule damit, zu lügen und so zu tun als ob. Es ist sehr mühsam, sich als eine Person auszugeben, die man nicht ist. Ich denke nicht darüber nach, welche Musik ich mögen könnte; ich überlege, welche Musik ich hören sollte. Als ich noch eine Freundin hatte, wollte ich sie unbedingt davon überzeugen, dass ich der Typ war, den sie sich wünschte. In einer Menschenmenge warte ich erst ab, bis ich herausgefunden habe, wie man sie zum Lachen bringt. Glücklicherweise
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