Weißer Teufel
hageren weißhaarigen Jungen.
Bloß näher. Nein, nicht nur näher, sondern in seinem Inneren.
Hrr hrr hrr – einatmen.
Krch krch – ausatmen.
Und dann kam die Vision.
Er befindet sich wieder auf der Treppe.
Der dünne rote Teppich ist derselbe. Das Geländer, die Kerzen.
Er steigt energisch die Treppe hinauf. Der Lärm begleitet ihn. Das Licht ist trüb.
Er ist erhitzt, wütend. Mit Schweiß bedeckt. Er ist bereit, etwas Schreckliches zu tun, und so aufgeregt, dass er zittert. Keine Zeit, innezuhalten. Er biegt um die letzte Ecke.
Die Gestalt .
Da ist sie.
Wie beim letzten Mal. Der Junge steht an der Tür am Ende des Korridors.
Hier sind viele Türen, in regelmäßigen Abständen. Der Junge bückt sich vor der letzten am Ende des Flurs. Eine merkwürdige Haltung.
Er muss den Schlüssel um den Hals tragen, mutmaßte Andrew. Er schließt die Tür auf.
Die Gestalt richtet sich auf, öffnet die Tür und tritt ein.
Andrews Brust wird eng, als er das sieht. Er macht einen Satz, um hinterherzulaufen.
Ist das die richtige Tür?
Er klopft. Das Geräusch wird noch lauter.
Zum Glück lässt sich die Tür ohne weiteres öffnen – die Gestalt hat sie nicht wieder zugesperrt. Sein Herz pocht.
Andrew überquert die Schwelle und sieht sich um – es ist ein Schlafzimmer mit einem kleinen Schreibtisch und einer Waschschüssel in der Ecke. Alles ist verschwommen in dem Dämmerlicht, für das die schweren Vorhänge vor dem Fenster verantwortlich sind.
Die Gestalt ist da. Dreht sich überrascht um.
Wer bist du?
Andrew erstarrt. Für den Bruchteil einer Sekunde erkennter: Er kann keinen Menschen töten . Dann ist der Gedanke weg. Mit zwei Schritten ist er bei der Gestalt. Greift nach ihrer Kehle. Ein kurzer Protestschrei. Andrews Finger quetschen die Luftröhre zu. Er fletscht die Zähne. Und gibt einer primitiven, animalischen Freude nach – kämpfen, gewinnen –, bis die echte Schlacht beginnt. Ein Mensch gibt sein Leben nicht so leicht auf. Er erkennt kaum das Gesicht: jungenhaft, feine Züge, hübsch, aber hässlich verzogen vor Anstrengung.
Die beiden Jungs schlagen sich. Der Junge blutet aus einer Wunde nah am Auge. Eine neue Strategie: Der Junge wirft sich zurück. Ein Tisch fällt um.
Jemand wird den Krach hören.
Andrew sucht nach einer Möglichkeit, das Ganze schnell zu beenden. Die Lösung : ein Kissen auf dem Bett. Er schnappt es sich. Ringt den Jungen nieder.
Wie leicht und klein er ist!
Er schiebt das Kissen auf sein Gesicht. Der Junge tritt um sich. Wehrt sich mit Knien und Fingernägeln. Andrew beißt die Zähne zusammen. Seine Finger und Arme sind taub. Seine Energie schwindet. Er hält nicht mehr lange durch. Er verlagert sein gesamtes Gewicht auf das Kissen. Langsam wird der Widerstand schwächer. Die Glieder des Jungen zucken nur noch. Andrew drückt weiter.
Ich kann nicht aufgeben.
Dann hören auch die Zuckungen auf.
Endlich – Ruhe.
Er rollt erschöpft von dem Jungen. Ein Schweißfilm überzieht sein Gesicht und den Hals. Das Keuchen zerreißt ihm fast die Brust. Der schreckliche Donner ist lauter denn je. Er hustet. Der Husten schmerzt in seiner Brustund explodiert in der Kehle. Der Kampf ist vorbei. Das Gesicht . Er muss es sehen. Er schwankt zum Fenster und zieht die Vorhänge zurück. Weißes Licht strömt ins Zimmer. Er zieht an einem Zipfel des grauen, abgenutzten Kissens.
Andrew schreckte auf. Presste beide Hände auf den Mund, um einen Schrei zu ersticken.
Er durfte die Zimmernachbarn nicht noch einmal alarmieren. Sie würden denken – wissen –, dass er verrückt geworden ist.
Ich sehe es wieder.
Es war, als würde er immer mehr in das wahre Geschehen gezogen.
Mein Gott, dieses Mal hab ich alles gesehen.
Nicht nur gesehen. Ich hab es selbst getan .
Er war dem, was wirklich passiert war, so viel näher. Ersticken. Genau, wie er es bei Theo auf dem Hügel beobachtet hatte.
Der weißhaarige Junge, John Harness, hatte ihn durchs halbe Lot einer anderen Zeit gezerrt. Andrews Existenz im Harrow des einundzwanzigsten Jahrhunderts war plötzlich unsicher. Seit die Wand zur Zisterne geöffnet war, schien es leichter für Harness zu sein, ihn in den kalten, feuchten Raum zu locken.
Das ist, was er will.
Vielleicht wollte er ihn nicht nur in den Zisternenkeller locken, sondern noch weiter, möglicherweise in das Loch und die schwarze Hölle, die Gesichter erzeugt wie das, das er auf dem Hügel gesehen hatte.
Hager, eingesunkene Augen.
Deshalb zeigt er es
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