Weißer Teufel
Gesichter sein sollten, war nurein weißes, radioaktives Leuchten. Andrew war gezwungen, den Blick abzuwenden, als die Jungs den Letzten in der Bank herunterzuschieben versuchten.
Es entstand eine kleine Balgerei, und plötzlich grinsten alle: Der Hausvater kam herein. Fawkes, flüsterten sie. Piers Fawkes rauschte in seinem schwarzen Lehrertalar herein, ein schlanker, leicht gebeugter Mittvierziger mit jugendlich zerzauster Frisur und großen Glupschaugen, die ihm den gelassenen, schalkhaften Ausdruck eines Jungen verliehen, der auf seiner eigenen Geburtstagsparty eingenickt war und dabei erwischt wurde. Betrunken und zu nichts zu gebrauchen, behauptete Rhys kopfschüttelnd. Dann fügte er noch ein Wort hinzu – Poet –, als würde das alles erklären.
Nach der Versammlung schwankte Andrew zu seinem Zimmer. Mehr konnte er für heute nicht verkraften. Theo hielt ihn im Flur auf.
»Alles in Ordnung, Kumpel?«
»Mein Gehirn ist Mus.«
»Das wird schon wieder. Willst du ein Lager?«
»Was?«
»Bier.«
»Du hast Bier ins Haus geschmuggelt?«
»Schmuggeln? Ich schmuggle gar nichts. Ich habe eine Bier-Genehmigung.«
Andrew blinzelte. »Von zu Hause?«
»Von dem verdammten Hausvater. Gott, du bist müde. Komm schon. Ein Bier?«
Andrew zögerte. Die Stimme seines Vaters dröhnte wieder in seinen Ohren. Du benimmst dich anständig, oder wir sind fertig mit dir.
»Es war ein langer Tag.«
»Mach dir keine Sorgen wegen der Wichser.« Mit einer Kopfbewegung schloss er den Rest des Hauses ein. »Sie sind einfach so.«
»Das hab ich kapiert. Rain Check für das Bier?«
Theo sah ihn verdutzt an. »Rain Jacket?«
»Verschoben. Ach, vergiss es. Gute Nacht.«
Der Schlaf kam wie ein Wirbelwind – rasender als der Steinschlag des Nachmittagsschläfchens. Er hatte wilde Träume: Flugzeuge, Aufzüge, Schlangen an der Passkontrolle. Bilder huschten vorbei wie in einem endlosen Videogame. Ihnen war er genau wie der unaufhörlichen Wiederholung all der neuen Wörter und der eigenartigen Sprache, die er heute gehört hatte, hilflos ausgesetzt, als würde sein Unterbewusstsein das Neue für eine Prüfung niederschreiben: Fragen, deren Melodie in der Mitte des Satzes statt am Ende nach oben ging ; neue Idiome und eine fremde Aussprache. Der Film lief noch schneller, in schwindelerregender Geschwindigkeit ab.
Die ausgebleichten Gesichter von den Fotografien im Gemeinschaftsraum.
Röntgenaufnahmen. Weiße Haare, schwarze Gesichter.
Uniformen. Schwarze Kleider. Strohhüte.
Das Gesicht eines Harrow-Jungen mit weißen Haaren kam in sein Blickfeld. Es wirbelte herum – ein immer wiederkehrendes Teilbild in einer hektischen Slideshow.
Das Gesicht kam mit jedem Mal näher. Es pulsierte in seiner Intensität. In seinem Traum wusste er, dass dieses Gesicht zu einer aufregenden Person gehörte. Erregung erfasste ihn. Er spürte seinen Herzschlag und empfand gleichzeitig Panik und ein Prickeln.
Er schreckte schweißgebadet aus dem Schlaf. Ohne Orientierung in der Dunkelheit.
Schule, hauchte er. England. Schlafraum. Dann: Schlaf.
Er driftete in dunklere Tiefen ab – endlich befreit von Bildern und Worten. Er schlief, bis ihn sein Reisewecker um sieben mit seinem erbarmungslosen elektronischen Winseln weckte.
2
Die falsche Abzweigung
Am Morgen hatte Andrew wenig Zeit, über seinen Traum nachzudenken. Nur in den kurzen ruhigen Momenten. Als er seine Socken anzog oder in der Schlange stand, um sich Eier und die Kipper abzuholen. ( Ja, hier gibt es tatsächlich die kalt geräucherten Heringe zum Frühstück, stellte er überrascht fest; sie waren gebraten, braun und fettig. Nicht gerade verlockend.) Seine Angst sprang ihn an, unvermittelt und deshalb noch beunruhigender, wie es Ängste zu tun pflegen – nicht mit einer Behauptung (eine Nacht in einer Knabenschule, und man muss schwul werden), sondern mit einer Andeutung (Theo ist dir gestern ziemlich dicht auf die Pelle gerückt, hat dich überallhin begleitet, dir die Krawatte gebunden; Theo sieht gut aus – braungebrannt, stylish … dann hattest du diesen Traum). Andrew würde es nie zugeben, aber sein früheres Internat, Frederick Williams, war ein richtig lauschiges Plätzchen. Die Lehrerschaft bestand aus Babyboomern mit liberalen Ansichten, die sie ihren Schülern aufzwingen wollten, indem sie zu Spenden für Haiti aufriefen oder einen Diversity Day veranstalteten, an dem sich eine Handvoll älterer Jungs und Mädchen als Angehörige der Studentengruppe
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