Weit weg ... nach Hause
verwechseln.
Luisa grinst in sich hinein: Alles hundertprozentig glaubwürdige Geschichten! Das kann einem schon passieren. Besonders wenn
man in der Großstadt lebt. Da gibt es viele einsame Alte, verlorene Kinder und durchgeknallte, freiheitsuchende Vögel, die
beim Lüften abhauen und nicht bedenken, dass sie an der nächsten Straßenecke erfrieren könnten. Zumindest im Februar.
Perfekt! Perfekt! Perfekt! Jetzt muss sie sich nur noch für eine Variante entscheiden und nichts durcheinanderwerfen.
Endlich biegt der Bus um die letzte Ecke. Luisa steigt aus und steht allein vor dem Eingangstor der Schule. Keine Schülerseele
weit und breit. Stille – Stille – Stille! Luisa balanciert über die kleine Mauer, die das Blumenbeet einfasst. Ein Schulhof ohne Schüler, das ist
ja himmlisch.
Und schon hört sie aus dem ›Himmel‹ ein Klopfen. Die paradiesische Zeit ist vorbei. Ganz oben am Fenster steht Herr Bender
und tippt mit dem rechten Zeigefinger auf seine Armbanduhr. Aus der Traum: Luisa schaut schuldbewusst hoch, dann läuft sie
zur Glastür, die Treppe hinauf und steht vor dem Klassenraum. Sie klopft. Niemand antwortet. Erstaunt guckt sie auf die Tür
und dann hinunter auf ihre Hand. Typisch! Wer soll denn so ein zaghaftes Klopfen mit fetten Wollhandschuhen hören? Also: Handschuh
aus! »Poch! Poch!«: Das war jetzt allerdings sehr laut. Sie zuckt selber erschrocken zusammen. Von drinnen flirrt Frau Thieles
fistelige Stimme ein dünnes, zackiges »Herein«, ein Laut wie zersplitterndes Glas. Luisa läuft ein kalter Schauer über den
Rücken. Sie strafft die Schultern und drückt die Türklinke hinunter und 27 Augenpaare starren sie an. Frau Thiele sitzt hinter dem Pult, streng, aus dem schwarzen Pullover ragt ein faltiger, geröteterHals. Faltig ist der Hals immer, rot nur bei Alarmstufe 2.
»Luisa, guten Morgen«, schrillt ihre hohe Stimme durch den Raum, »schön, dass du auch schon da bist. Du hast sicher eine gute
Erklärung, warum du zwanzig Minuten zu spät zum Unterricht erscheinst!«
Luisa schluckt einmal, zweimal. Sie schaut auf ihre Stiefelspitzen, damit sie nicht die grinsenden Gesichter sehen muss. Das
ist doch nicht möglich: Sie hat ihre Ausreden vergessen. Verzweifelt versucht sie sich zu erinnern.
»Also, das war so«, hört sie sich plötzlich lang gedehnt sagen. »Ich ging durch die Straße, da sah ich einen kleinen Jungen
in einem Hauseingang stehen. Der weinte bitterlich. Er hatte den Weg zu seiner Schule vergessen und leider auch den Namen
seiner Eltern. Es war ein ausgesprochen kleiner Junge.«
Die Ersten beginnen leise zu kichern. Alle kennen Luisas spektakuläre Geschichten und amüsieren sich, wenn sie zu spät kommt
oder mal wieder die Hausaufgaben vergessen hat. Unruhe breitet sich aus, die Jungen flüstern.
Luisa hebt den Kopf und spricht ungerührt weiter:
»Tja, was sollte ich machen? Er tat mir leid und ich konnte ihn doch nicht allein da stehen lassen! Ich habe ihn in seine
Klasse gebracht. Leider war seine Schule weiter weg, als ich dachte. Und dann habe ich den nächsten Bus genommen, um hierher
zu fahren.«
Beim letzten Satz nimmt Luisa ihre Mütze ab und die roten Locken fallen wie ein Vorhang auf ihre Schultern und umrahmen schützend
ihr Gesicht.
Frau Thiele atmet geräuschvoll aus: »Das war sehr nett von dir. Setz dich auf deinen Platz, damit wir weitermachen können!«,
sagt sie knapp und klappt das Klassenbuch zu.
Ein Raunen geht durch die Klasse.
»Hoffentlich trifft sie morgen keinen Eisbären, der zurück zum Nordpol muss«, ruft Markus.
Die ganze Klasse brüllt vor Lachen. Luisa packt konzentriert ihr Mathebuch auf den Tisch.
»Lass sie in Ruhe, Markus!«, schaltet sich Nathalie ein. »Wir grölen auch nicht ab, wenn du komische Geschichten über deinen
Dad erzählst.«
»Da gibt’s auch nichts zu lachen. Die sind schließlich nicht erfunden.«
»Schluss jetzt! Ruhe bitte!«, bricht Frau Thiele das Gespräch energisch ab. »Ich möchte die Hausaufgabenbesprechen. Ist außer Thorsten, der die Aufgabe nicht verstanden hat, noch jemand ohne Fahrschein?«
»Luisa, hast du einen Krampf im Arm?«, grinst Markus hämisch zu ihrem Tisch hinüber, »warum meldest du dich nicht?«
Markus spielt mal wieder den Anführer und die Jungen sind in ihrem Element: Sie fühlen sich sehr sicher. Sogar der schüchterne
Kevin meint, er müsse mit einem witzigen Kommentar punkten: »Vielleicht hat sie Angst, dass
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