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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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Basislager wieder sehen konnte. Was es mir möglich machte, draußen zu bleiben – und mehr noch, mir das Gefühl gab, dass ich es auch länger als einen Tag ausgehalten hätte –, war das Schreiben:
    DONNERSTAG, 3. JULI
    Heute Abend beginne ich ein Notizbuch. Sollte irgendjemand dies lesen, vertraue ich darauf, dass er mir den übermäßigen Gebrauch des Wortes «ich» verzeiht. Ich kann nicht damit aufhören. Ich schreibe dies.
    Als ich heute Nachmittag nach dem Essen zu meinem Feuer zurückkam, gab es einen Augenblick, in dem mir meine Aluminiumtasse wie ein Freund erschien, sie saß auf einem Stein, betrachtete mich …
    Eine bestimmte Fliege (jedenfalls glaube ich, dass es ein und dieselbe war) summte heute Nachmittag eine ganze Weile um meinen Kopf herum. Nach einer gewissen Zeit hörte ich auf, sie als ein störendes, garstiges Insekt zu sehen & begann unbewusst, sie als Gegner zu begreifen, den ich eigentlich ganz gern mochte, und dass wir nur miteinander spielten.
    Ebenfalls an diesem Nachmittag (das war meine Hauptaktivität) habe ich mich auf einen Felsvorsprung gesetzt, um die verschiedenen Zwecke meines Lebens, wie ich sie zu verschiedenen Zeiten gesehen habe (3 – was die Sichtweisen betrifft), in die Worte eines Sonetts zu fassen. Natürlich ist mir jetzt klar, dass ich das nicht mal in Prosa hinkriege, also war es echt unnütz. Wie auch immer, als ich dabei war, war ich plötzlich überzeugt, dass das Leben Zeitverschwendung wäre oder so was. Ich war so traurig und fertig, dass jeder Gedanke in Verzweiflung mündete. Doch dann sah ich mir ein paar Flechten an & schrieb ein bisschen über sie & beruhigte mich und kam zu dem Schluss, dass sich mein Kummer keinem Sinnverlust verdankte, sondern der Tatsache, dass ich nicht wusste, wer ich war oder warum ich war, und meinen Eltern nicht zeigte, dass ich sie liebte. Ich näherte mich meinem dritten Punkt, aber mein nächster Gedanke schweifte ein bisschen ab. Ich kam zu dem Schluss, dass der Grund für das Obige war, dass die Zeit (das Leben) zu kurz ist. Das stimmt natürlich, aber es war nicht der wahre Grund für meinen Kummer. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich vermisste meine Familie.
    Als ich mein Heimweh erst einmal diagnostiziert hatte, konnte ich es durch Briefeschreiben lindern. Den Rest der Reise schrieb ich jeden Tag an meinem Journal und stellte fest, dass ich mich von Weidman entfernte und zu meinen weiblichen Mit-Campern hingezogen fühlte; nie zuvor war ich sozial so erfolgreich gewesen. Was mir gefehlt hatte, war ein halbwegs sicheres Gefühl für meine eigene Identität gewesen, ein Gefühl, in der Einsamkeit entdeckt, weil ich Worte in der ersten Person Singular zu Papier gebracht hatte.
    Ich war noch jahrelang auf mehr Backpacking erpicht, doch nie erpicht genug, um es auch dazu kommen zu lassen. Das Ich, das ich durchs Schreiben entdeckte, so stellte es sich am Ende heraus, war nicht mit dem Ich von Tom identisch. Ich hielt an seinem alten Gerry-Rucksack fest, obwohl er kein sinnvolles Mehrzweck-Gepäckstück war, und träumte meinen Traum von der Wildnis weiter, indem ich für wenig Geld Campingausrüstung kaufte, die ich nicht brauchte, eine Jumboflasche Dr. Bronner’s Pfefferminzseife zum Beispiel, deren Vorteile Tom periodisch pries. Als ich zu Beginn des letzten Schuljahrs den Bus zurück ins College nahm, steckte ich Dr. Bronner’s in den Rucksack, und die Flasche platzte während der Fahrt, sodass sich meine Kleider und Bücher vollsogen. Als ich den Rucksack in einer Wohnheimdusche auszuwaschen versuchte, zerfiel das Gewebe unter meinen Händen.

    Más Afuera wirkte, als sich das Boot näherte, nicht einladend. Die einzige Karte, die ich von der Insel hatte, war die ausgedruckte Seite einer Google-Earth-Aufnahme. Ich sah gleich, dass ich die Konturen wohlwollend missinterpretiert hatte. Was nach steilen Hügeln ausgesehen hatte, waren Klippen, und was nach sanften Abhängen ausgesehen hatte, waren steile Hügel. Etwa ein Dutzend Hummerfängerhütten kauerten auf dem Grund einer gewaltigen Schlucht, zu deren beiden Seiten die grünen Schultern der Insel über tausend Meter hoch in eine Schicht dräuend schäumender Wolken ragten. Die See, die während der Ausfahrt einigermaßen ruhig gewirkt hatte, peitschte in mächtigen Wogen gegen eine Felsenkluft unterhalb der Hütten. Um an Land zu kommen, sprangen die Botaniker und ich in ein Hummerboot, das sich der Küste bis auf hundert Meter näherte. Dort

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