Weiter weg
die Entscheidung getroffen, mich nicht mit dem fiesen Selbstmord von jemandem, den ich so sehr geliebt hatte, auseinanderzusetzen, sondern mich stattdessen in Zorn und Arbeit zu flüchten. Jetzt allerdings, nach getaner Arbeit, war der Umstand, dass David, einer möglichen Interpretation seines Selbstmords zufolge, an Langeweile gestorben war und ohne Hoffnung für seine künftigen Romane, schwerer zu ignorieren. Der schneidende Unterton meiner eigenen Langeweile in letzter Zeit: Könnte er damit zu tun haben, dass ich selbst ein Versprechen gebrochen hatte? Dass ich mir nach Beendigung meines Buchprojekts mehr als flüchtige Trauer und fortdauernden Zorn über Davids Tod gestatten würde?
Und so erreichte ich, am letzten Januarmorgen, in dichtem Nebel einen Fleck auf Más Afuera namens La Cuchara (Der Löffel), tausend Meter über Meereshöhe. Ich hatte ein Notizbuch, ein Fernglas, eine Taschenbuchausgabe von Robinson Crusoe , das kleine Buch mit Davids Überresten, einen Rucksack voll Campingausrüstung, eine grotesk unzulängliche Karte der Insel und keinen Alkohol, Tabak oder Computer dabei. Abgesehen davon, dass ich, statt alleine zu wandern, einem jungen Parkranger und einem Maultier folgte, das meinen Rucksack trug, und dass ich außerdem, auf das Insistieren diverser Leute hin, ein Funkgerät, eine zehn Jahre alte GPS-Einheit, ein Satellitentelefon und mehrere Ersatzbatterien mitgebracht hatte, war ich völlig isoliert und allein.
Zuallererst begegnete ich Robinson Crusoe , weil mein Vater mir daraus vorlas. Neben Les Misérables war es der einzige Roman, der ihm etwas bedeutete. Das Vergnügen, das er darin fand, ihn mir vorzulesen, zeigt, dass er sich mit Crusoe so sehr identifizierte wie mit Jean Valjean (den er, Autodidakt, der er war, «Gene Val Gene» aussprach). Wie Crusoe fühlte sich mein Vater von anderen Menschen isoliert, war entschieden moderat in seinen Gewohnheiten, glaubte an die Überlegenheit der westlichen Zivilisation über die «Wildheit» anderer Kulturen, begriff die Natur als etwas, das man bändigen und ausbeuten müsse, und war ein unverbesserlicher Heimwerker. Selbstdiszipliniertes Überleben auf einer wüsten Insel, umgeben von Kannibalen, das war für ihn die vollkommene Romantik. Er war in einem rauen Städtchen geboren, das sein Pioniervater und seine Pionieronkel gebaut hatten, und bei der Arbeit in Straßenbaucamps im borealen Sumpfland erwachsen geworden. In unserem Keller in St. Louis betrieb er eine gut sortierte Werkstatt, in der er seine Werkzeuge schärfte, seine Kleider flickte (er konnte gut nähen) und aus Holz und Metall und Leder robuste Lösungen für häusliche Instandhaltungsprobleme improvisierte. Mehrmals im Jahr ging er mit meinen Freunden und mir zelten, errichtete, während ich mit meinen Freunden in die Wälder lief, unser Lager und machte sich neben unseren wattierten Schlafsäcken ein Bett aus derben alten Laken. Ich glaube, dass ich ihm in gewisser Weise die Ausrede bot, zelten zu gehen.
Mein Bruder Tom, nicht minder ein Heimwerker als mein Vater, wurde, als er aufs College ging, ein echter Backpacker. Weil ich Tom in allem nachzueifern versuchte, lauschte ich seinen Geschichten über zehntägige Solotrips in Colorado oder Wyoming und sehnte mich danach, selbst ein Backpacker zu sein. Meine erste Chance bekam ich in dem Sommer, als ich sechzehn wurde und meine Eltern überredete, mich an einem Sommerschulkurs namens «Camping im Westen» teilnehmen zu lassen. Für zwei Wochen «Studium» in den Rockys schlossen mein Freund Weidman und ich uns einer Busladung Teenager und Betreuer an. Ich hatte Toms ausgemusterten roten Gerry-Rucksack dabei und (für Notizen zu meinem eher zufällig gewählten Studiengebiet, Flechten) ein Notizbuch, das dem, das Tom immer bei sich trug, exakt glich.
Am zweiten Tag eines Trecks in die Sawtooth-Wildnis in Idaho wurden wir aufgefordert, vierundzwanzig Stunden alleine zu verbringen. Mein Betreuer brachte mich in ein schütteres Gelbkiefernwäldchen und ließ mich dort allein, und sehr bald kauerte ich, obwohl der Tag schön und nicht weiter bedrohlich war, in meinem Zelt. Offensichtlich musste ich, um mir der Leere des Lebens und des Grauens der Existenz bewusst zu werden, nur für ein paar Stunden der menschlichen Gesellschaft beraubt werden. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass Weidman, obwohl acht Monate älter als ich, sich derart einsam gefühlt hatte, dass er bis zu der Stelle zurückgelaufen war, von der aus er das
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