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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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Charaktere und Situationen zu erfinden und dabei doch immer wieder dieselbe Geschichte zu erzählen. Alle Autoren von erzählender Literatur leiden darunter, dass sie nichts Neues zu sagen haben, aber am meisten leiden die Autoren von Kurzgeschichten. Wie gesagt: Man kann sich nicht verstecken. Die gewitztesten alten Hasen – Alice Munro oder William Trevor zum Beispiel – versuchen es gar nicht erst.
    Die Geschichte, die Alice Munro immer wieder erzählt, geht ungefähr so: Eine intelligente, sexuell leidenschaftliche junge Frau wächst im ländlichen Ontario auf. Die Familie hat wenig Geld, die Mutter ist krank oder tot, der Vater ist Lehrer, seine zweite Frau ist schwierig. Die junge Frau flieht bei der ersten sich bietenden Gelegenheit aus der Provinz, sei es mit Hilfe eines Stipendiums oder durch eine entschlossene, eigennützige Tat. Sie heiratet jung und zieht nach British Columbia, sie bekommt Kinder und ist keineswegs schuldlos am Scheitern ihrer Ehe. Vielleicht hat sie Erfolg als Schauspielerin, als Schriftstellerin oder als Fernsehmoderatorin; sie erlebt amouröse Abenteuer. Als sie – wie könnte es anders sein – nach Ontario zurückkehrt, findet sie die Landschaft ihrer Kindheit beunruhigend verändert. Obgleich sie es war, die ihrer Heimat den Rücken kehrte, trifft es sie in ihrem Narzissmus schwer, dass man sie nicht herzlich willkommen heißt und dass die Welt ihrer Jugend mit ihren altmodischeren Sitten und Moralvorstellungen nun ein Urteil über die modernen Entscheidungen fällt, die sie getroffen hat. Ihr Versuch, als unversehrter, unabhängiger Mensch zu bestehen, hat zu schmerzhaften Verlusten und Störungen geführt; sie hat andere verletzt.
    Und das war’s, im Großen und Ganzen. Das ist der kleine Strom, der Alice Munros Werk seit mehr als fünfzig Jahren speist. Wie Clare Quilty tauchen dieselben Elemente immer wieder auf. Ebendiese Vertrautheit des Materials macht Alice Munros künstlerische Entwicklung in Selected Storys und mehr noch in den danach veröffentlichten Büchern so deutlich und atemberaubend sichtbar. Nichts weiter als diese kleine Geschichte – und man sehe sich an, was Alice Munro daraus entstehen lässt; je öfter sie dorthin zurückkehrt, desto mehr findet sie. Sie ist keine Golferin auf der Drivingrange. Sie ist eine Turnerin im schlichten schwarzen Trikot, allein auf dem nackten Boden, und sie sticht sie alle aus, die Romanautoren mit ihren bunten Kostümen, ihren Peitschen, ihren Elefanten und Tigern.
    «Die Komplexität der Dinge – der Dinge in den Dingen – ist geradezu endlos», sagte sie in einem Interview. «Ich meine, nichts ist leicht, nichts ist einfach.»
    Damit formulierte sie das grundlegende Axiom der Literatur und verwies auf den Kern dessen, was ihren Reiz ausmacht. Und wenn ich eine Dosis echter Literatur brauche, eine gute, starke Mixtur aus Paradox und Komplexität, dann finde ich das, aus welchen Gründen auch immer – sei es die Fragmentierung der Zeit, die mir zum Lesen zur Verfügung steht, sei es das moderne Leben mit seinen zahllosen Ablenkungen und Zersplitterungen oder der tatsächliche Mangel an fesselnden Romanen – am ehesten in kurzen Werken. Neben Tricks waren Wallaces Geschichten in den Bänden In alter Vertrautheit und Vergessenheit sowie eine überwältigende Kurzgeschichtensammlung der britischen Schriftstellerin Helen Simpson das Fesselndste, was ich in letzter Zeit gelesen habe. Simpsons Buch, eine Reihe komischer Ausbrüche zum Thema «Die moderne Mutter», erschien ursprünglich unter dem Titel Hey Yeah Right Get a Life (dt. Gleich, Schätzchen ) – ein Titel, an dem es, sollte man meinen, nichts zu verbessern gibt. Was die Marketingfachleute des amerikanischen Verlages allerdings nicht daran hinderte, es dennoch zu versuchen. Und was war ihr Vorschlag? Getting a Life. Denken Sie an dieses grässliche Gerundium, wenn Ihnen das nächste Mal ein amerikanischer Verleger erzählt, Kurzgeschichtensammlungen seien unverkäuflich.

    7. Alice Munros Kurzgeschichten sind noch schwieriger zu rezensieren als die anderer Autoren.
    Mehr als jeder andere Schriftsteller seit Tschechow erkämpft und erreicht Alice Munro in ihren Geschichten eine gestalthafte Vollkommenheit in der Abbildung eines Lebens. Sie ist von jeher ein Genie, wenn es um die Entwicklung und Darstellung von Augenblicken der Erkenntnis geht. In den nach Selected Storys (1996) erschienenen Kurzgeschichtensammlungen jedoch hat sie den wirklich großen Sprung in die

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