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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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makellosen Vorstadthaus, das sie sich nicht mehr wird leisten können, falls ihr Mann ins Heim zurückkehrt. Nicht Liebe ist für sie wichtig, sondern das Haus. Weder in ökonomischer noch in emotionaler Hinsicht hat sie dieselben Vorteile genossen wie Grant, und dieser offensichtliche Mangel lässt Grant auf dem Heimweg in eine typisch munroeske Innenschau eintauchen.
    [Ihr Gespräch] erinnerte ihn an Gespräche, die er mit Mitgliedern seiner eigenen Familie geführt hatte. Seine Verwandten, seine Onkel, wahrscheinlich sogar seine Mutter hatten so gedacht, wie Marian dachte. Sie hatten geglaubt, wenn andere Leute nicht so dachten, dann, weil sie sich etwas vormachten – sie waren zu weltfremd oder zu blöde, aufgrund ihres leichten und behüteten Lebens oder ihrer Bildung. Sie hatten den Anschluss an die Wirklichkeit verloren. Gebildete Leute, Literaten, einige Reiche wie Grants sozialistische Schwiegereltern hatten den Anschluss an die Wirklichkeit verloren. Infolge eines unverdienten Glücksfalls oder einer angeborenen Beschränktheit. …
    Was für ein Trottel, dachte sie jetzt wohl.
    Gegenüber einer solchen Person fühlte er sich mutlos, entnervt, schließlich nahezu allein gelassen. Warum? Weil er nicht sicher war, sich gegenüber dieser Person selbst treu bleiben zu können? Weil er Angst hatte, dass diese Menschen am Ende recht hatten?
    Ich breche nur ungern ab. Ich würde gern weiterzitieren, nicht bloß einzelne Sätze, sondern ganze Passagen, denn es zeigt sich, dass das Mindeste, was meine Zusammenfassung leisten müsste, um der Geschichte, den «Dingen in den Dingen», dem Wechselspiel von Klasse und Moral, von Verlangen und Treue, von Charakter und Schicksal gerecht zu werden, eben das ist, was Munro bereits geschrieben hat. Die einzige adäquate Zusammenfassung des Textes ist der Text selbst.
    Womit ich wieder bei dem einfachen Rat bin, den ich Ihnen eingangs gegeben habe: Lesen Sie Alice Munro! Lesen Sie Alice Munro!
    Allerdings muss ich Ihnen sagen – ich kann es jetzt, da ich davon angefangen habe, nicht verschweigen –, dass Grant nach der vergeblich vorgetragenen Bitte zu Hause eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter vorfindet – eine Nachricht von Marian, die ihn zu einem vom Veteranenverein veranstalteten Tanzabend einlädt.
    Und auch dies: dass Grant bereits Marians Brüste und ihre Haut gemustert und sie in Gedanken mit einer alles andere als befriedigenden Litschifrucht verglichen hat: «Das Fleisch mit seiner merkwürdig künstlichen Konsistenz, seinem chemischen Geschmack und Geruch, eine dünne Schicht über dem umfangreichen Kern, dem Stein.»
    Und: dass sein Telefon einige Stunden später, während er noch immer Betrachtungen über Marians körperliche Reize anstellt, abermals läutet. Er nimmt den Hörer nicht ab, sondern lässt die Nachricht vom Anrufbeantworter aufzeichnen:
    «Grant. Hier ist Marian. Ich war unten im Keller und hab die Wäsche in den Trockner gesteckt, und dann hörte ich das Telefon, aber bis ich oben war, hatte der, der dran war, schon aufgehängt. Also hab ich gedacht, ich muss sagen, dass ich hier war. Wenn Sie es waren, und wenn Sie zu Hause sind.»
    Und das ist noch immer nicht das Ende der Geschichte. Sie umfasst (in der deutschen Ausgabe) 82 Seiten – für Alice Munro ausreichend, um ein ganzes Leben zu umreißen – und hält noch eine weitere Wendung bereit. Aber wie viele «Dinge in den Dingen» hat Alice Munro, in der Figur des Grant, bereits freigelegt: den liebenden Ehemann; den Ehebrecher; den Ehemann, der so loyal ist, dass er bereit ist, seine Frau zu verkuppeln; den Verächter anständiger Hausfrauen; den Zweifler, der sich eingesteht, dass anständige Hausfrauen vielleicht recht haben, wenn sie ihn verachten. Doch erst Marians zweiter Anruf offenbart die ganze Bandbreite von Alice Munros schriftstellerischem Können. Wer einen solchen Anruf erfindet, kann nicht allzu empört sein über Marians moralische Engstirnigkeit. Oder allzu schamerfüllt wegen Grants Freizügigkeit. Vielmehr muss er imstande sein, jedem zu vergeben und niemanden zu verdammen. Denn sonst würde er übersehen, was entgegen aller Wahrscheinlichkeit ein Leben vollständig umwälzen kann – beispielsweise die Möglichkeit, dass sich Marian in ihrer Einsamkeit zu einem albernen Mann mit liberalen Ansichten hingezogen fühlt.
    Und das ist nur eine Geschichte. In Tricks gibt es Geschichten, die noch besser sind als diese – kühner, blutiger, tiefer, breiter – und die

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