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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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reizvoll, eben weil viele ihrer Ansichten es nicht sind. Und die Nebenfiguren vom Anfang sind, als wollten sie die Sprunghaftigkeit der Raths spiegeln, häufig komisch und faszinierend; da ist der Personalchef, der sich hinter seinem Schreibtisch flach auf den Boden legt, der Arzt auf Hausbesuch, der Kinder hasst, die kurzzeitig eingestellte Haushälterin, die die kleinen Racker der Raths auf Vordermann bringt. Die erste Hälfte des Buchs macht Spaß . Taucht man in Wilsons altmodische Gesellschaftsroman-Erzählweise ein, dann ist es wie eine Spritztour in einem Oldsmobile; man ist verblüfft über seinen Komfort, seine Geschwindigkeit und seine Fahrweise; vertraute Anblicke wirken frisch, wenn man sie durch seine kleinen Fenster sieht.
    Die zweite Hälfte des Buchs gehört Betsy – Toms besserer Hälfte. Obwohl ihre Beziehung aus drei Jahren Schwärmerei, gefolgt von viereinhalb Jahren Lügen in Kriegszeiten und Getrenntsein, gefolgt von weiteren neun Jahren Liebe «ohne Leidenschaft» und Familienleben «ohne ein Gefühl außer Sorge» besteht, hält Betsy zu ihrem Mann. Sie legt ein Programm zur Familienoptimierung auf. Es gelingt ihr, Tom für die Lokalpolitik zu interessieren. Sie verkauft das verhasste Haus und führt ihre Familie aus dem tristen Exil in exklusivere Gegenden. Sie entscheidet sich für ein Leben des risikoreichen Vollzeit-Unternehmertums. Am wichtigsten aber ist, dass sie Tom unablässig dazu anhält, ehrlich zu sein. Die Handlung driftet folglich ganz allmählich von «Paar mit interessanten Fehlern ringt mit Fünfziger-Jahre-Konformismus» zu «Schuldbeladener Mann lässt sich passiv von großartiger Frau helfen». Zwar gibt es auf der Welt so großartige Menschen wie Betsy, allerdings taugen sie nicht zu großartigen Romanfiguren. In einem Vorwort bedankt sich Sloan Wilson überschwänglich bei der eigenen besseren Hälfte, seiner ersten Frau Elise («Viele der Gedanken, auf denen dieses Buch gründet, stammen von ihr»), sodass man sich ein wenig fragt, ob der Roman nicht eine Art Liebesbrief von Wilson an Elise ist, eine Feier seiner Ehe mit ihr, vielleicht sogar der Versuch, die eigenen Zweifel an seiner Ehe zu zerstreuen, sich selbst zur Liebe zu überreden. Jedenfalls spielt sich im weiblichen Teil des Buches etwas Dubioses ab. Und trotz der vielen Konflikte chez les Raths lässt Wilson seine Figuren nie auch nur in die Nähe der Möglichkeit wahren Unglücks gelangen.

    Eine der deutlichen impliziten Aussagen von Der Mann im grauen Flanell ist, dass die Harmonie der Gesellschaft von der Harmonie jedes einzelnen Haushalts abhängt. Der Krieg hat die Vereinigten Staaten krank gemacht, indem er zwischen Männer und Frauen einen Keil trieb; der Krieg hat Millionen Männer in fremde Länder geschickt, um zu morden, dem Tod zu begegnen und mit einheimischen Mädchen zu schlafen, während Millionen amerikanischer Ehefrauen und Verlobte stillvergnügt zu Hause warteten, ihren Glauben an ein Happy End nährten und die Last der Unwissenheit schulterten, nun können nur noch Ehrlichkeit und Offenheit das Band zwischen Männern und Frauen wieder reparieren und eine angeschlagene Gesellschaft heilen. Wie Tom sagt: «Am Zustand der Welt kann ich nichts ändern, aber mein Leben kann ich in Ordnung bringen.»
    Glaubt man an Liebe und Treue, Wahrheit und Gerechtigkeit, hat man am Ende von Der Mann im grauen Flanell möglicherweise Tränen in den Augen. Aber noch während einem das Herz schmilzt, ärgert man sich möglicherweise darüber, dass man dieser Regung nachgibt. Wie Frank Capra in seinen klebrigeren Filmen möchte Wilson uns glauben machen, dass ein Mann, wenn er nur wahren Mut und Ehrlichkeit zeigt, die perfekte Stelle in Fußnähe seines Hauses angeboten bekommt, der örtliche Immobilienmakler ihn nicht betrügt, der Richter am Ort immer nur Recht spricht, der unbequeme Schurke zum Teufel gejagt wird, der Industriekapitän seine Anständigkeit und seinen Bürgersinn offenbart, die Wähler der Gemeinde sich um der Kinder willen mehr Steuern auferlegen, die ehemalige Geliebte in Übersee ihre Grenzen kennt und keinen Ärger macht und die Martini-Ehe gerettet wird.
    Ob man ihm das nun abkauft oder nicht, dem Roman gelingt es jedenfalls, den Geist der Fünfziger einzufangen – den unbehaglichen Konformismus, die Flucht vor Konflikten, den politischen Quietismus, den Kult der Kleinfamilie, die Annahme von Klassenprivilegien. Die Raths sind um einiges flanellgrauer, als ihnen offenbar klar wird.

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