Clementines verrückte Woche
Margret ist nur ein Jahr älter als ich. Aber immer, wenn sie sagt, »als ich in der dritten Klasse war«, dann klingt das wie »damals in grauer Vorzeit, als ich noch klein war, aber das bin ich nicht mehr, und deshalb habe ich hier zu bestimmen«. Ich möchte lernen, wie das geht, für den Fall, dass jemals irgendwer meinen kleinen Bruder in die dritte Klasse lässt.
»Deine Klasse hatte auch immer eine Schülerin der Woche? Das wusste ich nicht«, sagte ich. »Wieso hast du mir das nie erzählt?«
Margret legte die Knöchel übereinander und schaute an ihren Beinen hinunter, um sich davon zu überzeugen, dass ihre Socken gleich weit oben saßen. Als sie mich wieder ansah, hatte sie ihren Mund zusammengezogen wie eine Rosine und war ein bisschen rosa angelaufen. Sie zuckte mit den Schultern. »Das hab ich wohl vergessen«, sagte sie. »Es war mir wahrscheinlich zu langweilig, um es zu erzählen.«
»Schülerin der Woche zu sein ist doch nicht langweilig! Und das Freundschaftsbuch schon gar nicht. Hast du dein Freundschaftsbuch aufgehoben? Kann ich es sehen?«
Wieder zuckte Margret mit den Schultern. »Meine Mutter hat es im Wohnzimmer. Es ist ihr sehr wichtig, weil darin steht, wie toll ich bin. Ich glaube, sie hat es gern zur Hand, wenn Mitchell sie mal wieder in den Wahnsinn treibt. Bestimmt liest sie dann darin und denkt: Puh! Was für ein Glück, dass ich immerhin ein braves Kind habe. Du solltest es lieber nicht anfassen.«
»Ich mache es doch nicht kaputt«, sagte ich. »Ich bin ganz vorsichtig. Wir können es ja lesen, wenn wir nach Hause kommen.«
Margret machte ein besorgtes Gesicht – als ob sie versuchte, sich etwas auszudenken, und das nicht klappte –, aber dann zuckte sie ein drittes Mal mit den Schultern und sagte: »Meinetwegen, okay, in Ordnung.«
Als wir nach Hause kamen, fuhren wir also mit dem Fahrstuhl hinunter in meine Wohnung, um zu meiner Mutter zu sagen, »hallo-Mom-tschüss-Mom-bin-kurz-bei-Margret-okay?-okay«. Dann fuhren wir mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock hoch, denn da ist Margrets Wohnung.
Margret steuerte sofort auf das Regal neben dem Kamin zu. Sie faltete die Hände vor ihrem Bauch und bewunderte die vielen Pokale und Preise, die sie schon gewonnen hatte. Weil wir das immer machen, wenn wir ihr Wohnzimmer betreten, wusste ich, dass auch ich das alles bewundern sollte. Also faltete ich ebenfalls die Hände und wir legten eine Schweigeminute ein und bewunderten die vielen Beweise dafür, wie toll Margret in einfach allem ist.
Und es gab jede Menge Beweise. Drei ganze Regalbretter voller »Gewinnerin des …« und »Blaues Band im …«, ordentlich und dicht an dicht aufgereiht wie die Sachen im Supermarkt.
Ich bin richtig gut in Mathe und Zeichnen. Aber dafür gibt es keine Preise, was ziemlich unfair ist. Deshalb haben meine Eltern nur einen Stapel Mathetests mit Sternchen und ein paar an die Wand geklebte Zeichnungen. Sie haben kein Regal für meine Preise im Wohnzimmer. Was auch gut ist, würde ich sagen, es wäre ja schließlich leer.
Als ich das Gefühl hatte, dass es mit dem Bewundern reichte, ging ich zu den Regalen auf der anderen Seite des Kamins hinüber. Dort hingen jede Menge Bilder von Margrets älterem Bruder Mitchell, auf denen er mit seinen Freunden Fußball spielte. Und darunter standen sechs genau gleich aussehende Baseballpokale. Auf jedem stand A. S. S., aber immer mit einer anderen Jahreszahl. Das war alles.
»Was bedeutet das, A. S. S.?«, fragte ich.
Margret kratzte sich den Kopf, als müsste sie darüber nachdenken. »Ach, richtig! Asozialer Super-Schurke«, sagte sie. »Das gewinnt er jedes Jahr. An ihn kommt keiner ran.«
Ich wusste, dass Margret sich das nur ausgedacht hatte, weil Mitchell das überhaupt nicht ist. Was N-I-C-H-T, nicht , bedeutet, dass er mein Freund ist.
Ich zog einen lila Filzstift aus der Tasche und schrieb mir A. S. S. auf den Arm, mit einer Menge Fragezeichen, weil ich nicht vergessen wollte herauszufinden, was damit gemeint war. Margret bemerkte es nicht, weil sie eine goldene Ballerina-Statue hochgehoben hatte. »Ich hätte für meine restlichen Nummern auch noch Silber und Bronze gewinnen müssen«, sagte sie. »Aber die Richter wollten die anderen nicht zu sehr enttäuschen.«
Margret gibt ja eigentlich immer gern ein bisschen an. Aber an diesem Tag gab sie noch mehr an als sonst. Das könnte noch eine ganze Weile so weitergehen. »Was ist jetzt mit dem Freundschaftsbuch?«, fragte ich
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