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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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gesucht. Jetzt aber, als ich es zur Vorbereitung auf diese Einleitung noch einmal ganz gelesen habe, überrascht mich, wie vieles darin ich noch immer neu und frisch finde. So habe ich bisher nie besonders auf die Anekdote geachtet, die Otto gegen Ende des Buchs über Cynthia Kornfeld und ihren Mann, den anarchistischen Künstler, erzählt: dass Cynthia Kornfelds mit Münzen versetzter Wackelpudding eine Verspottung der Bentwoods ist, die Essen und Privilegien und Zivilisation gleichsetzen; dass die Idee einer Schreibmaschine, die so umgebaut ist, dass sie nur Unsinn produziert, auf subtile Weise das Schlussbild des Romans vorwegnimmt, und dass diese Anekdote mit Nachdruck dazu auffordert, Was am Ende bleibt vor dem Hintergrund einer zeitgenössischen Kunstszene zu lesen, die darauf ausgerichtet ist, Ordnung und Bedeutung zu zerstören . Und dann Charlie Russel – habe ich ihn bisher je wirklich gesehen ? Früher war er für mich eine Art Standardbösewicht, ein Abtrünniger, ein ungeheuerlicher Mensch. Jetzt dagegen erscheint er mir für die Geschichte ebenso unabdingbar wie die Katze. Er ist Ottos einziger Freund, sein Anruf löst die finale Krise aus, er zitiert den Satz von Thoreau, aus dem der Titel des Originals stammt, und er spricht ein Urteil über die Bentwoods – «stur und dumm und durch Selbstbeobachtung in Eintönigkeit versklavt, während ihnen die Grundlagen ihrer Privilegien unter dem Hintern weggezogen werden» –, das auf düstere Weise äußerst zutreffend erscheint.
    Ich weiß allerdings nicht, ob ich überhaupt noch neue Einsichten möchte. Eine große Gefahr für langjährige Ehen ist die Tatsache, dass man das Objekt seiner Liebe furchtbar gut kennenlernt. Sophie und Otto leiden unter ihrer Kenntnis voneinander, und ich leide an meiner Kenntnis von Was am Ende bleibt . Meine Unterstreichungen und Randbemerkungen ufern aus. Bei meiner vorerst letzten Lektüre finde und markiere ich eine enorme Zahl wichtiger, bedeutsamer Bilder aus den Bereichen Ordnung und Chaos, Kindheit und Erwachsenenleben, die bislang unmarkiert geblieben waren. Und weil das Buch nicht dick ist und ich es inzwischen ein halbes Dutzend Mal gelesen habe, werde ich in absehbarer Zeit jeden Satz als wichtig und bedeutsam markiert haben. Diese außergewöhnliche Verdichtung verweist natürlich auf Paula Fox’ Genie. Es gibt kaum ein zufälliges, unwesentliches Wort in diesem Buch. Diese Strenge und thematische Dichte sind kein Zufall, und doch sind sie für einen Schriftsteller fast nicht zu erreichen, wenn er sich gleichzeitig so weit zurücknimmt, dass die Figuren zum Leben erwachen und der Roman geschrieben werden kann. Aber hier ist er, dieser Roman, und erhebt sich weit über alle anderen realistischen Romane, die seit dem Zweiten Weltkrieg geschrieben worden sind.
    Ironischerweise geht mit dieser Fülle einher, dass ich, je besser ich die Bedeutung jedes einzelnen Satzes verstehe, umso weniger imstande bin zu formulieren, auf welche umfassende Bedeutung all die einzelnen Bedeutungen abzielen. Letztlich erzeugt das Übermaß an Bedeutung eine Art Horror. Dieses Übermaß ist, wie Melville in dem Kapitel «Das Weiß des Wals» in Moby-Dick ausführt, eng verwandt mit dem Fehlen jedweder, vom Wirbeln unzähliger kleiner Bedeutungen ausgelöschter Bedeutung. Nicht zufällig ist das auch ein Leitsymptom gewisser Geisteskrankheiten. Maniker, Schizophrene und Depressive sind oft überzeugt, dass absolut alles in ihrem Leben mit Bedeutung aufgeladen ist – und zwar derart, dass das Aufspüren, Entziffern und Organisieren dieser Bedeutungen zu einer überwältigenden Aufgabe wird, die das eigentliche Leben unmöglich macht. Im Fall von Otto und insbesondere Sophie (die von zwei Ärzten gedrängt wird, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben) ist der Leser nicht der Einzige, der überwältigt ist. Die Bentwoods sind hochgebildete, durch und durch moderne Menschen. Es ist ihr Fluch, dass sie allzu gut gerüstet sind, sich selbst als literarische Texte voller sich überlappender Bedeutungen wahrzunehmen. Im Verlauf eines einzigen Winterwochenendes werden sie davon, dass die beiläufigsten Bemerkungen und winzigsten Vorfälle ihnen wie «Omen» erscheinen, erst bedrückt und schließlich überwältigt. Die enorme Spannung, die das Buch entwickelt, beruht weder lediglich auf Sophies Angst noch auf der Tatsache, dass Paula Fox Schritt für Schritt jeden Fluchtweg verbaut, oder der Gleichsetzung einer Ehekrise mit der Krise in

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