Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
Vom Netzwerk:
«die auch in Cabarets gehen, in Bars, wo es Poledance und Frauen aus Osteuropa gibt. Also keine Leute mit hohen moralischen Maßstäben. Mit anderen Worten: die meisten Zyprioten. Eins unserer Sprichwörter lautet: ‹Was immer man sich in den Mund stecken kann, was immer im Arsch Platz hat …›»
    «Soll heißen: Das Leben ist kurz», sagte Takis.
    «Die Leute kommen nach Zypern und denken, sie sind in einem europäischen Land, weil wir in der EU sind», sagte Demetrios. «Dabei sind wir in Wirklichkeit ein Land des Nahen Ostens, das nur zufällig zu Europa gehört.»
    Am Abend zuvor hatte ich auf der Polizeiwache von Paralimni eine Zeugenaussage gemacht. Der junge Polizist, der sie aufnahm, hätte, wie mir schien, gern gehört, dass die Männer, die die CABS-Mitarbeiter angegriffen hatten, einfach nicht hatten gefilmt und fotografiert werden wollen. «Für die Leute hier», erklärte er, als alles zu Protokoll genommen war, «ist die Jagd auf Singvögel eine alte Tradition, und das kann man nicht von heute auf morgen ändern. Man muss mit ihnen reden und es ihnen verständlich machen, das ist viel besser als dieses aggressive Vorgehen des CABS.» Vielleicht hatte er sogar recht, aber diese Bitte um Geduld hatte ich überall am Mittelmeer gehört, und mittlerweile klang sie in meinen Ohren wie eine leicht abgeänderte Version dessen, was die moderne Konsumgesellschaft im Hinblick auf die Natur sagt: Wartet nur ein Weilchen, bis wir alles verbraucht haben, dann könnt ihr Naturschützer kriegen, was übrig ist.
    Während Takis, Demetrios und ich auf das Dutzend Ambelopoulia warteten, das wir bestellt hatten, berieten wir, wer sie essen sollte. «Vielleicht nehme ich einen kleinen Bissen», sagte ich.
    «Ich mag das Zeug nicht mal», sagte Takis.
    «Ich auch nicht», sagte Demetrios.
    «Also gut», sagte ich. «Wie wär’s, wenn ich zwei esse und ihr jeder fünf?»
    Sie schüttelten den Kopf.
    Nur zu bald erschien der Wirt mit einer Platte voller Ambelopoulia, die im harten Licht aussahen wie ein Dutzend gelblich-graue, glänzende Kothaufen. «Sie sind mein erster amerikanischer Gast», sagte er. «Wir hatten hier schon viele Russen, aber noch keinen Amerikaner.» Ich legte einen Vogel auf meinen Teller, und der Wirt versicherte mir, schon ein einziges dieser Vögelchen wirke wie zwei Viagra-Pillen.
    Als wir wieder allein waren, schrumpfte mein Blickfeld auf ein paar Zentimeter, wie damals, in der neunten Klasse, als ich im Biologieunterricht einen Frosch seziert hatte. Ich zwang mich, die beiden mandelgroßen Brustmuskeln zu essen, die das einzige erkennbar Essbare zu sein schienen; der Rest bestand aus fettigen Knorpeln, Innereien und winzigen Knochen. Ich konnte nicht sagen, ob das Fleisch tatsächlich so bitter schmeckte oder ob dieser Geschmack nur dem Wissen geschuldet war, dass dafür ein so wunderbares Geschöpf wie diese Mönchsgrasmücke hatte sterben müssen. Takis und Demetrios machten mit ihren Vögeln kurzen Prozess, nagten die Knochen ab und sagten, Ambelopoulia seien viel besser als in ihrer Erinnerung, eigentlich ziemlich gut. Ich zerlegte einen weiteren Vogel, und da mir etwas übel war, wickelte ich die übrigen beiden in Papierservietten und steckte sie in die Tasche. Der Wirt kehrte zurück und fragte, ob mir die Vögel geschmeckt hätten.
    «So lala», sagte ich.
    «Wenn Sie sie nicht ausdrücklich bestellt hätten», sagte er bedauernd, «hätte ich Ihnen heute Abend das Lamm empfohlen.»
    Ich antwortete nicht, doch der Wirt, wie durch meine Komplizenschaft ermuntert, wurde gesprächig: «Die jungen Leute heutzutage essen sie nicht mehr. Früher hat man jung damit anfangen und einen Geschmack dafür entwickelt. Mein kleiner Sohn kann zehn davon essen.»
    Takis und Demetrios wechselten einen skeptischen Blick.
    «Es ist eine Schande, dass sie verboten sind», fuhr der Wirt fort. «Früher waren sie eine schöne Touristenattraktion – jetzt fühlt man sich beinahe wie ein Drogenhändler. Ein Dutzend Vögel kosten mich sechzig Euro. Diese verdammten Ausländer kommen her und zerreißen die Netze, und wir haben uns ihnen gefügt. Die Jagd auf Ambelopoulia war eine der wenigen Möglichkeiten, wie die Leute hier Geld verdienen konnten.»
    Wieder draußen, ging ich zum Rand des Parkplatzes, zu einem Gebüsch, wo ich zuvor Ambelopoulia hatte singen hören, und grub mit den Händen ein Loch. Die Welt kam mir ganz besonders sinnlos vor, und das Beste, was ich gegen dieses Gefühl tun konnte, war,

Weitere Kostenlose Bücher