Weiter weg
zwangsläufig nicht sind, Lügen gestraft – und damit ins zugleich Lächerliche und Tragische gezogen wird.
In handwerklicher Hinsicht ist dieses Buch ein Wunderding: muss es ein Wunderding sein, denn ohne die absolute Kontrolle des Autors über Dramaturgie, Satzbau und Details würde er unter dem Gewicht seiner eigenen widersinnigen Prämisse zusammenbrechen. Im ersten Satz gelingt es Antrim mit der Magie seiner Kommata, Semikolons, Gedankenstriche und Parenthesen, alle neunundneunzig Brüder, die sich versammelt haben und gemeinsam trinken, essen, schlechtem männlichem Benehmen frönen und sich um die Arbeit – sprich: die angemessene Bestattung der Asche ihres Vaters – drücken, namentlich zu nennen und genauer zu beschreiben. (Dieser Auftakt enthält auch die erste und einzige Erwähnung einer konkreten Frau, Jane, die für das Verschwinden des hundertsten Bruders verantwortlich ist; es scheint, als würde der Logik dieses Romans entsprechend die bloße Nennung eines signifikanten anderen genügen, um einen Bruder aus der Erzählung auszuschließen.) Die Handlung spielt ausnahmslos in der riesigen Bibliothek des Familienlandsitzes, von dessen Fenstern aus man im «tristen Tal» jenseits der Mauern des Anwesens die Lagerfeuer der Obdachlosen sehen kann, und bleibt, hier und da von kleinen Einblicken in die Geschichte brüderlicher Grausamkeit und Gewalt akzentuiert, auf einen einzigen Abend beschränkt. (Dougs Erinnerung an das Spiel ihrer Kindheit, «Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann», das die Liebe/den Hass zwischen Geschwistern in sich birgt und auf ihr späteres Sündenbock-Ritual hindeutet, ist besonders genial.) Die Ereignisse, die sich an diesem einen Abend zutragen, sind oft absurd, für Doug und den Leser oft entnervend und dabei immer ausgesprochen lebendig und konkret. Zusammengenommen ergeben sie ein raffiniertes Meisterwerk der Choreographie, in der Doug, der selbsternannte Kornkönig, den Vortänzer gibt und auf seinem Weg durch die Bibliothek alle anderen mit einbezieht.
Der Roman ist zudem ein Meisterwerk des Aus- und Einschließens. Außen vor gelassen werden Frauen (einschließlich, vor allem, der Mutter oder Mütter der Brüder), Kinder, jeglicher Hinweis auf einen bestimmten Ort oder ein bestimmtes Jahr und jede realistische Erklärung dafür, dass es überhaupt so viele Brüder sind, wie sie alle in ein einziges Haus passen und was ihr Leben außerhalb davon ausmacht. Innerhalb dieser bizarren Grenzen allerdings findet man einen bemerkenswert vollständigen Katalog all dessen, was Männer unter Männern so tun und empfinden. Football, Faustkämpfe, Futterneid, Schachspielen, Maulheldentum, Zocken, Jagen, Trinken, Pornographie, Possenreißerei, Philanthropie, Elektrowerkzeug («Doug, ich will meine Bandschleifmaschine wiederhaben», sagt ein Bruder namens Angus beiläufig), Cruising, Ängste in Bezug auf Inkontinenz, Penisgröße und Gewichtszunahme in den mittleren Jahren: Es kommt alles vor. Trotz seiner Kürze enthält das Buch überdies eine geschickt montierte Genealogie menschlichen Wissens und menschlicher Erfahrung, von der Vorgeschichte bis zu einer sehr späten Gegenwart, in der die Zivilisation am Rand des Kollapses zu stehen scheint. Genau wie eine unüberschaubare Sammlung von Büchern und Zeitschriften über jedes Thema und aus jeder Epoche in einer einzigen, undichten, vernachlässigten Bibliothek untergebracht ist, finden sich auch sämtliche menschliche Archetypen («die urweltlichen Aspekte des Selbst», wie Doug es formuliert) in dem einen einzigen, heroischen, versagenden Bewusstsein des Erzählers versammelt.
Als die Brüder alle zusammen am Esstisch sitzen, mahnt einer zu besserer Instandhaltung der Bibliothek: «Wie einige von euch vielleicht wissen, hat ein stetes Tröpfeln, genau über der Philosophie des Geistes, kürzlich siebzig bis achtzig Prozent der Kognitiven Theorien unter Wasser gesetzt und zerstört.» Wie in einer Art Albtraum vom Gelähmtsein können die Brüder den Verfall der Bibliothek nur registrieren, aber nicht ernsthaft bekämpfen. Kronleuchterglühbirnen flackern, Regenwasser strömt herein, Fledermäuse fliegen umher, Möbel sind kaputt, Essensreste werden in einst wertvolle Teppiche getreten. Der ganze Roman ist von der Erkenntnis oder Angst oder Vorahnung überschattet, dass die Postmoderne uns nicht voranbringt, sondern zurück in die Primitivität führt, ja dass unser gesammeltes, hart erarbeitetes Wissen sich letztlich als nutzlos
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