Weiter weg
erweisen und verlorengehen wird. Schon auf den ersten Seiten des Buches, wo Doug beschreibt, wie sich einige der verheirateten Brüder gemeinsam über pornographische Werke aus dem 18. Jahrhundert beugen, treiben ihn solche düsteren Ahnungen um. «Die Missachtung der Hygiene im Zeitalter der Aufklärung ist ausreichend dokumentiert», bemerkt er. «In den Exlibris-Radierungen von arthritischen Adligen, die mit dem Hut auf dem Kopf Liebe in Hündchenstellung exerzieren, lauert eine gewisse syphilitische Degeneration.» Gegen Ende des Buches gipfeln die Vorahnungen des Verfalls in einem Paukenschlag: jener grandiosen Szene, in der Doug, umgeben von den Büchern liberaler Theologen, Altertumsforscher und Biobliographen, mit seinem Urin ekstatisch «ein paar literarische Meisterwerke abspritzt, wie man so sagt». In der Verzweiflung, die ihn nach diesem Augenblick der Ekstase ergreift, ist die Auflösung der Bibliothek immer weniger von dem zu unterscheiden, was mit ihm selbst passiert. Der Mann wird zur Welt, die Welt zu dem Mann; der Solipsismus ist perfekt, die Geschichte vollends wahnsinnig geworden.
Die Verrücktheit von The Hundred Brothers resultiert aus seiner Bereitschaft, die düstere Tatsache, dass das Leben jedes Einzelnen letztlich nur ein immer schnellerer Marsch gen Verfall und Tod ist, nicht nur anzunehmen, sondern sogar zu zelebrieren. Der Roman ist ein dionysischer Traum, in dem nichts, nicht einmal die Vernunft, dem zersetzenden Chaos dieses Umstands entgeht; seine Form jedoch ist heldenhaft apollinisch. Er macht den einsamen Solipsismus mittels Riten, Archetypen und hoher Kunst allgemeingültig und menschlich. Was Nick Carraway über seinen Freund Jay Gatsby sagt, lässt sich auch auf den Sündenbock Doug übertragen: Er ist letztlich kein schlechter Kerl. Wir Übrigen, seine Brüder und Schwestern, erwachen aus dem grauenhaften Traum erfrischt und, wie Doug halb ironisch, halb hoffnungsvoll sagt, besser imstande, «zu wachsen und zu gedeihen».
(Übersetzt von Bettina Abarbanell)
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Über autobiographische Literatur
Ein Vortrag
Ich möchte mich zunächst mit vier unangenehmen Fragen beschäftigen, die Romanschriftstellern bei einer Veranstaltung wie dieser oft gestellt werden. Augenscheinlich sind sie der Preis, den wir zahlen müssen für das Vergnügen, vor Publikum in Erscheinung zu treten. Es sind Fragen, die uns rasend machen – nicht nur, weil sie so oft gestellt werden, sondern auch, weil sie sich, bis auf eine, schwer beantworten lassen und weil es sich, gerade deshalb, lohnt, sie zu stellen.
Die erste dieser wiederkehrenden Fragen lautet: Unter dem Einfluss welcher Autoren schreiben Sie?
Manchmal hätte der Fragensteller wohl einfach gern ein paar Buchtipps, allzu oft aber ist die Frage ernst gemeint. Sie ärgert mich unter anderem deswegen, weil sie immer im Präsens gestellt wird: Wer beeinflusst Sie? Tatsache ist, dass ich, zum jetzigen Zeitpunkt meines Lebens, hauptsächlich von dem, was ich bisher geschrieben habe, beeinflusst bin. Mühte ich mich immer noch im Schatten von, sagen wir, E. M. Forster ab, würde ich sicher angestrengt so tun, als sei dem nicht so. Einem gewissen Harold Bloom zufolge, dessen clevere Theorie vom literarischen Einfluss ihm zu einer Karriere im Unterscheiden von «starken» und «schwachen» Schriftstellern verholfen hat, wäre ich mir des Ausmaßes meiner Bemühungen im Schatten von E. M. Forster nicht einmal bewusst. Darum wüsste einzig Harold Bloom.
Unmittelbarer Einfluss ist nur für sehr junge Schriftsteller sinnvoll, die, solange sie herauszufinden versuchen, wie man schreibt, erst einmal Stil und Duktus und Methode ihrer Lieblingsautoren kopieren. Ich persönlich war, mit einundzwanzig, sehr von C. S. Lewis, Isaac Asimow, Louise Fitzhugh, Herbert Marcuse, P. G. Wodehouse, Karl Kraus, meiner damaligen Verlobten und der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor Adorno beeinflusst. Eine Zeitlang, in meinen frühen Zwanzigern, gab ich mir große Mühe, die Satzmelodien und komischen Dialoge von Don DeLillo nachzumachen; ich war auch sehr angetan von der strapaziös lebhaften und allwissenden Prosa Robert Coovers und Thomas Pynchons. Und die Plots meiner ersten beiden Romane waren in beträchtlichem Umfang von zwei Filmen geborgt, Der amerikanische Freund (von Wim Wenders) und Cutter’s Way – Keine Gnade (von Ivan Passer). Doch kommen mir diese mannigfaltigen «Einflüsse» nicht bedeutsamer vor
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